Lionel Messi ist wieder Weltfußballer – und der Frankfurter Pizzabäcker hatte einen guten Riecher.

Stuttgart - Der Sport kann an seinen verbissensten Tagen so verdammt ernst sein, dass einem nicht mehr viel einfällt – höchstens noch Diogenes, der einmal am helllichten Tag mit der Laterne in der Hand durch Athen eilte und auf die Frage nach dem tieferen Sinn seines merkwürdigen Tuns seine Philosophenstirn in Falten legte und meinte: „Ich suche Menschen.“

 

Manchmal findet man sie noch.

Das Beweisbild sehen Sie unten, und ohne Rücksicht auf das offizielle Sportfoto des Jahres 2012, das demnächst erst noch gekürt werden muss und vermutlich einen fulminanten Fallrückzieher, einen krachenden Haken zum Kinn oder einen vierfachen Salto beim Wellenspringen auf Hawaii zeigt, erklären wir es zu unserem Lieblingsbild.

Denn das Foto zeigt zwei Menschen, die lachen. Das ist selten genug in diesen schwierigen Zeiten, und dann auch noch mitten im Spiel? Die zwei haben Spaß und Freude, sie genießen den Moment, und sie nehmen, ohne den Schiedsrichter, den Papst oder Sepp Blatter lange um Erlaubnis zu fragen, den Fußball einfach als das, was er vor langer Zeit einmal war – ein Spiel.

„Wie gefällt es dir in Frankfurt“, fragt der im weißen Hemd. „Muy bien“, sagt der mit der Nummer zehn.

Moment vollendeter Harmonie

Vielleicht ist es aber auch völlig anders, vielleicht ist der Kleine in Zivil ein Hellseher und gratuliert dem Kleinen im Trikot nur schon einmal vorab zu seinem vierten Pokal als Weltfußballer des Jahres, den er in Zürich feierlich erhalten hat – aber auf jeden Fall sind die zwei sich in diesem Moment in vollendeter Harmonie einig, ganz offensichtlich sagt der Mann in Weiß beim Abklatschen begeistert zum Mann in Blau: „Lass dir die Hand schütteln, Leo.“

Nein, hier soll nicht überstürzt und unüberlegt für die Unsitte des Flitzens auf den Fußballplätzen geworben werden – trotz dieses durchaus sympathischen Vorfalls gibt es weiß Gott klügere Schnapsideen, als von der Tribüne über den Stadionzaun zu klettern, im Zickzack die deutsche Abwehrreihe zu durchbrechen, Haken schlagend kreuz und quer übers Spielfeld zu rennen, die jähe Unterbrechung eines weltweit übertragenen Länderspiels herbeizuführen und am Ende von bulligen Ordnungskräften wie ein nichtsnutziger Tagdieb abgeführt und in Gewahrsam genommen zu werden, mit abschließender Anzeige wegen Hausfriedensbruchs sowie Geldstrafe und Stadionverbot.

Aber irgendwie hatte die Sache was.

Ganz in Weiß

Cayan Calgici heißt der Kleine in Weiß. Deutschtürke, Pizzabäcker in Frankfurt. Dort führen am Abend jenes 15. August 2012 die Argentinier 3:1, es ist die Schlussminute, und Cayan denkt: jetzt oder nie. Und im nächsten Moment rast er schon durchs Gras wie ein vom Juckreiz gejagtes Kaninchen – „mit Puls 400“, schätzt er später.

Und dann sieht er Lionel Messi, direkt vor sich, nur einen Kurzpass entfernt. Und was tut der König der Pampa? Er grinst. Er spannt die Backen. Der König lacht. Komm her, sagt dieses geballte Lachen, und der Pizzabäcker ist baff – und traut sich, geht hin und stammelt hinterher: „Was für ein Wahnsinnstyp.“

Ja, so verrückt ist er inzwischen – nein, nicht der Messi, sondern der Sport. Die Schere zwischen Star und Fan ist so weit offen, dass der Fan den Star gar nicht mehr als Mitmenschen mit Haut und Haaren erwartet, sondern als unvorstellbaren Stern aus einer glitzernden, fernen Galaxis mit einem Schild um den Hals, auf dem steht: „Anfassen verboten.“ So einer, glauben wir Flachlandtiroler in unserer Basisstation der Normalsterblichen, ist nicht mehr von hier. Doch dann begegnet unserem Pizzabäcker urplötzlich Messi, dieser fröhliche Fleischgebliebene, und der Argentinier lacht auf Augenhöhe aus der Tiefe des Mittelfelds: „Ich bin Lionel, und du?“

„Sieg oder stirb“

Ein Bild sagt oft mehr als tausend Worte, und dieses Foto aus dem Fußballsommer in Frankfurt sagt, dass der Sport immer noch dann am lustigsten ist, wenn er sich nicht unter dem Motto sieg oder stirb so verdammt ernst nimmt – sondern auch einmal menschelt.

Erstaunlicher Weise geht das mitunter noch auf höchster Ebene. Vor dem besten Fußballer der Welt haben wir es schon einmal beim besten Basketballer der Welt erlebt. LeBron James kam seinerzeit unter dem Korb zu Fall, und wie aus dem Nichts stürmte von der Tribüne plötzlich ein zierliches Persönchen aufs Parkett, schlug auf zwei Gegenspieler von gewaltigem Wuchs fuchsteufelswild ein und schrie: „Was macht ihr mit meinem Kid?!“ Das Kid war LeBron. Aus zwei Meter Höhe schaute der Superstar fassungslos zu, wie seine Mama Gloria ihn vor einem Millionenpublikum live und in voller Länge wie ein Muttersöhnchen verteidigte und sein stählernes Image ruinierte. „Sit yo ass down!“, fauchte der Riese – das ist die Sprache des Ghettos, und jugendfrei übersetzt riet er seiner Mom, sich zum Teufel noch mal schleunigst zurückzuziehen auf ihre fünf breiten Buchstaben, die mit „A“ beginnen und mit „rsch“ aufhören.

Man kann sie sich auf Youtube herunterladen, diese wunderbar komische Szene mit LeBron und Gloria James, die sich nicht darum scherte, ob im Macho- und Superstarsport noch Platz ist für eine Mama mit Herz. Sie war einfach Mensch.

Wie Messi und sein Flitzer.

Auch dieses Bild muss gespeichert werden, denn solche Momente sind vom Aussterben bedroht. Beim Italiener, wo er in der Backstube schafft, hat Cayan später übrigens eine Pizza „Messi“ auf die Speisekarte gebracht, für 3,50 Euro – und an der Stelle ahnen wir endlich, wie der Dialog wirklich verlaufen ist.

„Komm doch nach dem Spiel noch schnell vorbei, Leo“, sagt der Pizzamann, „ich mach dir eine Schinken-Salami, gratis, weil du es bist.“

„Muchas gracias“, lacht darauf der Pampakönig.

Auch wir bedanken uns, wählen diesen Handschlag zum Doppelpass des Jahres – und gratulieren dem Fußball zu Lionel Messi, weil es nicht schaden kann, wenn der beste Spieler der Welt auch noch Mensch ist und dazu noch ein tadelloser.