Heutzutage dominiert der coole Jamaikaner Usain Bolt – dabei ist der „Siegertyp“ ursprünglich eine deutsche Erfindung.

Stuttgart - Bei Olympischen Spielen sieht man vier Sorten von Sportlern: Die einen sind gut, die anderen sehr gut, die dritten verdammt gut – und dann gibt es noch solche, die so übermenschlich gut sind, dass sie Probleme hätten, sich selbst zu besiegen. Diese Ausnahmeathleten werden gefeiert als lebende Legenden, denn sie sind siegessicher, selbstsicher und bieten eine coole Show.

 

Wer ist der geborene Siegertyp?

In ihrem jugendlichen Leichtsinn schnalzen jetzt viele mit den Fingern und brüllen die vermeintlich kinderleichte Antwort hinaus: Usain Bolt! Was aber krottenfalsch ist – in Wahrheit gehört der Jamaikaner als Plagiator disqualifiziert, als dreister Nachahmer und billige Kopie.

Bissig, gefräßig und nimmersatt

Das Original saß neulich in der Talkshow „Beckmann“, und Sportsfreund B. hat mit Millionen Deutschen der Kategorie Ü 60 bedauert, dass unser blonder Blitz nicht fünfzig Jahre jünger ist, denn dann würde er nicht grau, gnädig und gemütlich in Talkshows, sondern bissig, gefräßig und nimmersatt im Startblock hocken und diesem aufgeblasenen Imitator aus der Karibik zeigen, dass wir Deutschen nicht nur das Auto, die Glühbirne und die Mundharmonika erfunden haben, sondern auch den Siegertyp.

Inzwischen arbeiten wir leider mehr am Verlierertyp, und da versteht der Mann, von dem im Folgenden die Rede ist, keinen Spaß. Dabeisein ist alles? Armin Hary wollte auch immer dabei sein, aber nur, um zu gewinnen. „Für mich“, sagt er, „gab es nichts anderes.“

Er hat immer gewonnen.

König des Sprints

Armin Hary heißt also die richtige Antwort auf die Frage, aus welchem Holz einer geschnitzt sein muss, um höchstens noch vor sich selbst Angst zu haben. Dieser alte König des Sprints ist im Grunde die lebende Gebrauchsanweisung für den von heute – nur war Hary schon vor fünfzig Jahren so locker, so cool und so gierig. Gold musste her. Und der Rekord. Der Beste wollte er sein. Also lief Hary als erster Mensch die 100 Meter in blanken zehn Sekunden, und er musste die Fabelzeit dreimal laufen, bevor die Welt sie ihm abnahm. 1958 in Friedrichshafen hatte die Bahn statt der erlaubten zehn ein Gefälle von elf Zentimetern. Beim zweiten Mal, anno 60 in Zürich, meldeten die Stoppuhren 10,0 – 10,0 – 9,9 – 9,8, die Welt stand kopf, doch nachträglich meinte der Kampfrichter: „Frühstart.“

„Dann lauf ich halt noch mal“, sagte Hary, trommelte zwei Gegner zusammen, die laut Regelheft nötig waren für einen Wiederholungslauf, und alle schüttelten den Kopf: Will dieser Spinner einen Rekord, den noch nie ein Mensch auf der Welt gelaufen war, binnen einer halben Stunde gleich zweimal laufen? Er tat es. Beschwingt von seinem üblichen Blitzstart („Ich habe mich auf den Knall gestürzt wie ein Boxer auf den Gegner“) lief er ins ewige Buch der Geschichte: Hary – 10,0.

Nerven wie Stahlseile

Hinterher kam heraus, dass er sich erst im letzten Moment in Frankfurt noch einen Platz im ausgebuchten Flieger nach Zürich ergattert hatte – und dass ihm deutsche Verbandsfunktionäre den Start eigentlich versagen wollten, um ihn für die nahenden Olympischen Spiele zu schonen. Aber das war ihm egal.

Nerven wie Stahlseile. Geimpft mit Vitamin E. Hary war eigensinnig, eigenwillig, ehrgeizig, erfolgshungrig und eiskalt, wenn es um das Umsetzen dessen ging, was er für Gewinn bringend hielt. Aufgrund seiner herausfordernden Mündigkeit galt er in jenen eher noch obrigkeitshörigen Nachkriegszeiten abwechselnd als rasender Flegel, Enfant terrible oder Bruder Leichtfuß auf Spikes (einmal wurde er als Spesenritter gesperrt), aber auch das war ihm schnuppe, diesem geborenen Sohn eines saarländischen Bergmanns und geborenen Siegertypen.

Hary hatte Charisma und Chuzpe, er war der selbstsicherste Strahlemann unter allen Kaltschnäuzigen auf der Piste, und als er ein paar Wochen lang für eine Uni im sonnigen Kalifornien lief, war seine Körpersprache auch dort so rotzfrech, dass der Pulitzerpreisträger David Maraniss in seinem späteren Olympiabuch „Rome 1960“ einen US-Trainer mit den vorausschauenden Worten zitierte: „Dieser Kerl wird uns gefährlich.“ Mit James Dean wurde Hary damals verglichen, dem Aufmüpfigen in „Rebels without a Cause“ – denn sie wissen nicht, was sie tun.

Sie wollen Gold

Dafür wissen sie, was sie wollen, diese rebellischen Siegertypen – und bei Olympia ist es Gold. Für den Buben B. wurde der Außergewöhnliche zum Kindheitsheld, nie vergisst er die schwarz-weißen TV-Bilder aus dem Stadio Olympico in Rom. Wie ein Rimini-Urlauber auf Flirtsuche kam Hary zum 100-Meter-Finale, mit Cowboyhut und kariertem Hemd, locker und lässig verübte er einen Fehlstart, und beim nächsten wäre er weg gewesen. Doch was passiert? Er stürzt sich unbeeindruckt in den Knall und rennt zum Gold. In Puma-Schuhen. Bei der Siegerehrung trägt er Adidas. So erfindet Hary auch gleich noch den Kommerz im Sport. Und abschließend rennt er zu Gold mit der 4x100-Meter-Staffel: 39,5 – Weltrekord. Was sonst.

Schon kurz danach, nach einem Autounfall, war dann Schluss. Drei Sommer lang ist Hary nur gelaufen, von 1958 bis 1960, mit der totalen Bilanz in Sprint und Staffel: Doppeleuropameister, Doppelolympiasieger, Doppelweltrekordler. Wenn er gefragt wird, warum er nie verloren hat, sagt er: „Selbstbewusstsein war ausreichend vorhanden.“

Essen mit Messer und Gabel

Offenbar verlernt das einer wie er so wenig wie das Essen mit Messer und Gabel. Jedenfalls sagt Hary, der 75 ist, aber nach 50 aussieht und wie mit 25 plaudert, immer mal wieder, dass sich Usain Bolt nie unter den Bedingungen von anno Tobak auf die Bahn trauen würde, „also auf Asche, mit meinen alten Spikes und vier Zentimeter langen Dornen – der müsste sich mächtig anstrengen, um bei seiner Größe und seinem Gewicht unter 10,0 zu kommen“.

Das ist die Frage. Und dann haben wir zum krönenden Schluss noch eine: Wer wurde einmal als „schnellster Angeber der Welt“ beschrieben: a) Usain Bolt oder b) Armin Hary? Die richtige Antwort kennen nur wir Älteren. Aber sie wird nicht verraten.