Beethovens Werk ist wie ein Eisberg: Wahrgenommen wird nur ein kleiner Teil. Wie sehr es lohnt, den unbekannten Komponisten kennenzulernen, beweist René Jacobs’ CD-Aufnahme der Frühfassung von „Fidelio“. Auch dank des Freiburger Barockorchesters ist die Oper „Leonore“ pures Theater.

Paris - René Jacobs macht’s gern anders. Alte Musik ist für ihn kein unantastbares Heiligtum. Er spielt gern mit ihr, probiert etwas aus, um das Aufregende von ehedem auch heute wieder spannend wirken zu lassen. So hat er zuletzt bei seiner Einspielung von Bachs Matthäuspassion die beiden Chöre mal nicht rechts und links, sondern frontal hintereinander postiert – und durch den Wechsel zwischen Nah- und Fernchor tatsächlich frappierende Wirkungen erzielt. Jacobs’ Mozart-Aufnahmen wiederum experimentieren nicht nur mit (eigenen) Neufassungen der Dialoge, mit Geräuschen, Überblendungen zwischen Sprech- und Gesangstext oder mit der Beimischung von Schlagzeug-Klängen in die Rezitative („Die Entführung aus dem Serail“), sondern greifen (beim Requiem) auch mal auf eine Neubearbeitung („Süßmayr remade“) des französischen Komponisten Pierre-Henri Dutron zurück.

 

Jetzt hat René Jacobs Beethovens „Fidelio“ aufgenommen – nein, nicht den „Fidelio“ von 1814, den wir kennen, sondern dessen 1805 uraufgeführte Erstfassung „Leonore“. Diese sei nämlich, so Jacobs, die gelungenste der drei existierenden Versionen: wegen ihrer rohen Schönheit, wegen der ausbalancierten Dramaturgie, wegen der Spannung der hier dreiaktigen Form und wegen der Ouvertüre – die so genannte zweite „Leonoren“-Ouvertüre sei nämlich die sprechendste, modernste und dramatischste. Man muss die Meinung des Dirigenten nicht bis ins letzte Detail teilen, man kann manches in der Frühfassung auch ein bisschen zu wenig konzise, zu weitschweifig finden. Und Jacobs’ Neufassung der Dialoge hebt deren Fremdheit und Gestelztheit schon deshalb nicht auf, weil die Sänger, zumal die nichtdeutschen, die Texte schlicht nicht natürlich sprechen.

Virtuose Naturhörner und unbekannte Musik

Dennoch erlebt man „Leonore“ in dieser Aufnahme als ein von Theater geradezu getränktes Stück. Das Freiburger Barockorchester hat daran großen Anteil: Die musikalischen Kontraste, die Jacobs am Pult schärft, eröffnen auch faszinierend unterschiedliche klangfarbliche Welten, die von bedeckten Bläserklängen bis zu sordinierten Darmsaiten reichen. Herrlich virtuose (und dabei sehr sauber intonierende!) konzertierende Naturhörner setzen der hier deutlich längeren und koloraturreicheren Leonoren-Arie („Komm Hoffnung, lass den letzten Stern“) das i-Tüpfelchen auf, einem später gestrichenen Duett von Marzelline und Leonore („Um in der Ehe froh zu leben“) geben solistische Akzente von Violine und Cello ein spezielles Kolorit, und die lange Szene, die in der ersten „Leonore“-Fassung das Terzett „Euch werde Lohn in bessern Welten“ ersetzt, lebt und bebt auch durch ihre klangfarblichen Ingredienzien.

Die männlichen Solopartien sind gut (das heißt: nicht zu schwer), allerdings nicht herausragend besetzt. Maximilian Schmitt gibt dem Florestan viele mühevolle Nachdrücker mit, und sowohl Dimitry Ivashchenko als Rocco als auch Johannes Weisser als Pizarro fehlt es in der Tiefe an Kontur und (im Falles des Bösewichts) an Schärfe. Robin Johannsen gibt dafür eine sehr jugendliche Marzelline, und Marlis Petersens hier sehr leicht und mühelos geführte Stimme lässt die Titelheldin blühen und glühen. Auch ihretwegen lohnt sich die Begegnung mit einer „Leonore“, die nicht den Ernst und die Tiefe vieler alter „Fidelio“-Aufnahmen (unter anderem mit den unvergessenen Leonores von Christa Ludwig oder gar Martha Mödl) haben mag, wohl jedoch eine besondere Art der Lauterkeit.

Der Klassikbetrieb wiederholt immer wieder das Bekannte

Entdecken ließe sich noch vieles. Der Beethoven, den alle kennen: Das sind die fünfte und die neunte Sinfonie, vielleicht noch die „Eroica“, dazu die eine oder andere der 32 Klaviersonaten – und, natürlich, das unverwüstliche „Für Elise“. Dabei ist das reiche Werk des diesjährigen Jubilars wie ein Eisberg, von dem nur ein Siebtel aus dem Wasser ragt; der Rest ist verborgen. Der Klassikbetrieb – also die CD-Labels, die Veranstalter und die Künstler – wiederholt mit Vorliebe immer wieder das Bekannte. Mit fatalen Folgen. Wer kennt schon die faszinierende dritte Klaviersonate, die Beethoven während seiner Arbeit am „Fidelio“ zwischen der Waldstein-Sonate und der Appassionata komponierte? Dabei bietet das zweisätzige F-Dur-Werk op. 54 alles, was Beethoven ausmacht: ein harmloses Menuett, das von einer aufbrausenden Melodie zertrümmert wird; danach ein exzentrisches Perpetuum mobile voller widerständiger Akzente. Eine Klangwelt in Aufruhr.

Beethovens Werke für Cello und Klavier, jüngst fantasie- und temperamentvoll eingespielt von Jean-Guihen Queyras und Alexander Melnikov, mögen manch einem schon einmal begegnet sein. Wer aber hat je Beethovens wunderbare Streichtrios gehört, die gerade das Trio Ostertag aufgenommen hat? Wer kennt seine Lieder? Und gar sein Streichquintett, das eine Brücke schlägt zwischen Mozart und Schubert? Und warum gibt es eigentlich keine Gesamteinspielung von Beethovens Streichquartetten auf historischen Instrumenten? Bei und mit dem nun 250 Jahre alten Komponisten gibt es so viel zu tun, dass ein Jubeljahr allein dafür viel zu kurz sein könnte. Packen wir’s an. Oder besser: Tauchen wir ein. Unter der Oberfläche des Titanen ist noch sehr viel zu entdecken.

Beethoven: „Leonore“. Petersen, Schmitt, Johannsen u. a.; Freiburger Barockorchester, Zürcher Sing-Akademie, René Jacobs. harmonia mundi (2 CDs)