Der Regie-Altmeister Achim Freyer inszeniert am Schauspiel Stuttgart den „Goldnen Topf“ von E.T.A. Hoffmann. Weil das Romantische eben auch politisch ist.

Bauen/Wohnen: Tomo Pavlovic (pav)

Stuttgart - Dem Mann zuzuhören, das ist zunächst ein zutiefst entspannendes Erlebnis. Seine Worte fliegen wie kleine Stoffbälle durch die Kantine des Theaters, so leise und behutsam formuliert Achim Freyer seine Gedanken. Was für eine Ausnahme in einer Welt, in der die lauten Selbstdarsteller mittlerweile allen Raum für sich beanspruchen, selbst in Kunst und Kultur. Und genau deswegen wäre es fatal, nicht ganz genau hinzuhören, was der 85-Jährige Maler, Regisseur und Bühnenbildner einem da lächelnd an den Kopf wirft. Es tut doch weh, selbst wenn es sich und flauschig anfühlt. Eine gute Stunde lang geht es im Gespräch nämlich um Verzweiflung, Zerstörung und den Tod. Und um die Frage, wie der Mensch sich retten kann.

 

Beschädigte Seelen

„Was geschieht, wenn Menschliches, Naturhaftes zu Gunsten von Anpassung und gesellschaftlich Verordnetem geopfert wird? Die Natur ist beschädigt, die Seele ist beschädigt, die Kommunikation ist beschädigt“, flüstert Freyer und setzt eine längere Pause, in der er sich umblickt, als gäbe es jemand Ungebetenes, der mitlauscht. „Bei E.T.A. Hoffmann lässt sich genau diese düstere Vision besichtigen. „Der goldne Topf“ hat mehr mit unserer Welt zu tun als manche denken.“ Achim Freyer ist mitten in der Regiearbeit an E.T.A. Hoffmanns romantischer Novelle aus dem Jahr 1814, in der ein tölpelhafter Student namens Anselmus unter einem Holunderbusch sitzend einer verführerischen Schlange verfällt und bei einem Archivar aus Atlantis unverständliche Manuskripte kopiert. Das wäre die etwas verkürzte Inhaltsangabe von einem, der das Werk für einen fantastischen Firlefanz hielte.

Märchenhaftes Grauen

Doch dieses „Märchen aus neuester Zeit“, wie es bei E.T.A. Hoffmann im Untertitel heißt, gilt als ein Schlüsselwerk der Romantik, ist Sternchenthema im Abitur und wird in Achim Freyers Inszenierung zu einem hochpolitischen Traumstück über die Notwendigkeit der Phantasie. Der Mann mit dem schlohweißen Haarwuschel und den blitzenden blauen Augen weiß, wovon er spricht. Denn ohne die Vorstellungskraft wäre auch das junge Leben des Achim Freyer kaum auszuhalten gewesen. Achim Freyer ist ein Kind des Krieges, überlebt die Bombennächte, sieht am Ende des zerstörerischen Irrsinns seine Heimatstadt Berlin am Horizont in Flammen aufgehen. Sein Vater, ein Obertelegrafenführer und unfreiwillig eingezogener Soldat in Hitlers Diensten, wird kurz darauf von den Nazis erschossen, weil er die Sinnlosigkeit des Krieges offen anspricht. Sein Sohn flüchtet sich damals vor dem realen Grauen in die Gruselwelt der Märchen, die er anderen Kindern erzählt, wenn’s dunkel wird. So kommt einer zur Kunst: indem er flieht. „Die größte Verdrängung war ja Geschichten zu erzählen, Bilder zu malen. Das ist politisch betrachtet . . .“, sagt Achim Freyer und hält kurz inne, als hätte er den Faden verloren, was aber nicht stimmt, denn es folgt ein leises „ . . . schrecklich“.

Distanz und Nähe

Dennoch sei die Flucht in andere Sphären, in die Metaphysik, den Wahnsinn oder vielleicht auch in die ironischen Sprachgefilde der Romantik ein legitimer Schritt, um zu verstehen, was wirklich passiert, meint Achim Freyer. „Durch eine Distanzierung die Nähe betrachten, ist ein schöpferischer Prozess“, behauptet der Berliner und zupft am weißen Hemdkragen, welches er sich eigens für diese Unterhaltung angezogen habe, wie er schelmisch sagt. Freyer kokettiert freilich, weil er niemandem mehr gefallen muss. Er ist 85 Jahre jung, blickt auf ein unglaublich erfolgreiches Künstlerleben zurück. Achim Freyer war Meisterschüler von Bertolt Brecht, schuf Bühnenbilder für Ruth Berghaus und Benno Besson, floh Anfang der siebziger Jahre aus der DDR, als er des Miserabilismus verdächtigt wurde.

Bilder für die Ewigkeit

Mit düsterer Kunst und zweideutigen Bühnenbildern gegen den sozialistischen Realismus zu opponieren, das war im verkrusteten Osten gefährlich, im aufbrechenden Westen aber – als Kapitalismuskritik – begehrt. Freyer, ein Bühnenmagier, der wie kaum ein zweiter in diesem Theaterland die Requisiten, die Instrumente und Schauspielerworte zum Klingen bringt und die Sehgewohnheiten des Publikums zu brechen weiß, wird zum viel umworbenen Bühnenausstatter in Schauspiel und Oper. In Stuttgart arbeitet er für und mit Claus Peymann, liefert Bilder für die Ewigkeit. „Das Käthchen von Heilbronn“? „Diese Arbeit war ein einziges Glück“, antwortet Freyer und wirkt für einen Moment nostalgisch. Das Käthchen bot so vieles für die Phantasie der Peymannkinder, war mutige Zirkusnummer und bestes Volkstheater, nicht nur illustriert, sondern getragen von der Bilderlust eines Achim Freyer. Das war Mitte der siebziger Jahre. Für den „Goldnen Topf“ ist der Altmeister wieder einmal zurückgekehrt. Und es ist, als wäre er nie weggewesen.

Info

E.T.A. Hoffmanns „Der goldne Topf“ feiert an diesem Samstag um 19.30 Uhr Premiere im Schauspielhaus Stuttgart.