Familie ist ein zentrales Thema der Schriftstellerin Roswitha Quadflieg. Jetzt hat sie unter dem Titel „Neun Monate“ ein beeindruckendes Buch über das Sterben ihrer Mutter vorgelegt. Die StZ-Autorin Suse Weidenbach ist ihr in Berlin begegnet.
Stuttgart - Von der Grundstimmung her sei sie Melancholikerin, sagt Roswitha Quadflieg und lacht. Tatsächlich ist es erstaunlich, dass diese zugewandte, freundliche und gar nicht pessimistisch wirkende Frau oft so traurige, bittere Texte schreibt. Besonders wenn es um ihr zentrales Thema der familiären Beziehungen geht, schildert die Tochter des genialen Schauspielers und Rezitators Will Quadflieg das Gegenteil einer heilen Welt. Ihr neuestes Buch allerdings über das Sterben ihrer Mutter Benita Quadflieg-von Vegesack ist trotz des Themas keineswegs trostlos. Es zeigt, dass die verstörende Zeit mit den „verrückten“ Alten eine neue Nähe zwischen den Generationen bringen kann.
„Diese zarten Augenblicke, so fern, so nah. Ich möchte sie in meine Arme schließen, sie beschützen. Wovor? Vor etwas mir Unbekanntem? Ich bin hier gar nicht gefragt, alles, was hier geschieht, liegt außerhalb meiner Macht.“ Roswitha Quadflieg sitzt am Bett ihrer schlafenden 93-jährigen Mutter in einem Pflegeheim am Hamburger Stadtrand und versucht einzuordnen, was nicht einzuordnen ist. Vier Monate zuvor war die Mutter urplötzlich von Panikattacken und Verfolgungswahn heimgesucht worden. Die Frau, die kurz vorher noch am Computer korrespondierte, war durch Ängste und Albträume total außer sich. Zunächst unfassbar für die Angehörigen terrorisiert die sonst so selbstbeherrschte Aristokratin das Pflegepersonal, spuckt um sich, reißt blöde Witze und hütet eine Puppe. Ihre Notizen unterschreibt sie mit „Frau Anders“. Dann wieder gibt es Tage, in denen sie von ihren Defiziten spricht und klare Anweisungen gibt für ihre Todesanzeige oder für die Ansprache des Pfarrers am Sarg: „Am 21. 11. 1917 geboren . . . den Rest können Sie googeln“, schlägt sie vor.
Hilflosigkeit im Wechselbad der Gefühle
In reduzierter, klarer und dichter Sprache schildert Quadflieg die titelgebenden neun Monate vor dem Tod: die Hilflosigkeit im Wechselbad der Gefühle und die Kämpfe der Mutter, die ihr oft wie ein „bockiges Kind“ vorkommt, die gleichzeitig wegwill und gierig nach Dasein ist. „Du hast mich gebeten, Sorge zu tragen, für dich zu entscheiden, wenn du eines Tages dazu nicht mehr in der Lage sein solltest. Aber ich kann es nicht, weil alles Rätsel ist, und alles, was ich tue, wahrscheinlich falsch ist.“
Im Gegensatz zum Vater sei ihr die Mutter bei ihrem Tod „sehr nahe“ gewesen, sagt Roswitha Quadflieg in ihrer loftigen Dachmaisonette in Berlin-Mitte. Die Mietwohnung mit zwei großen Tischen im Innern und auf dem Balkon bietet einen idyllischen Blick ins Grüne mit Charité-Hochhaus im Hintergrund – so viel Realität muss sein. 1949 geboren, war sie das jüngste von fünf Kindern aus der 23-jährigen Ehe ihrer Eltern, die 1963 auf Antrag der Mutter geschieden wurde. Schon bei ihrer Konfirmation war der berühmte Vater nicht mehr präsent. In mehreren Büchern hat sie nur mäßig verfremdet familiäre Bezüge hergestellt. Ihr Bruder Christian Quadflieg ist wie der Vater Schauspieler („Der Landarzt“).