Es ist 7.30 Uhr, zwischen dem Fernverkehr und der S-Bahn nach Marbach ziehen Kaffeeschwaden durch die noch leicht somnambule Geschäftigkeit. Wer sich mit Sandra Richter in einer Lücke ihres berstenden Terminkalenders treffen möchte, muss früh aufstehen. Und welcher Ort könnte dazu geeigneter sein als einer des Aufbruchs und Übergangs – ein Bahnhof, auch wenn derselbe in Stuttgart derzeit eher an Abbruch und Untergang gemahnt.
Aber vielleicht ist Baustelle gar kein schlechtes Stichwort. Gerade kommt die gemessen an der Bedeutung ihres Amtes immer noch erstaunlich jugendlich-unbeschwert wirkende Leuchtturm-Direktorin aus Berlin. Denn natürlich ist das Marbacher Nachlassimperium ein kultureller Leuchtturm, dessen Signale auch in der Hauptstadt aufmerksam verfolgt werden. Und gerade in diesen Tagen gibt es mit den Zuwendungsgebern aus Bund und Land manches zu bereden. Denn damit das Deutsche Literaturarchiv bleiben kann, was es ist, muss sich manches verändern und weiterentwickeln. Oder um es geradeheraus zu sagen: Das Archiv platzt aus allen Nähten.
1300 neue Regalmeter pro Jahr
Jährlich wächst der Gedächtnisspeicher auf der Schillerhöhe um fantastische 1300 Regalmeter. Wenn Sandra Richter davon erzählt, gleicht sie dann doch bei aller Gelassenheit ein wenig Walter Benjamins berühmtem Engel der Geschichte, der mit aufgerissenen Augen auf die zum Himmel wachsenden Hinterlassenschaften blickt: unzählige Nachlässe, Verlagsarchive, Bücher, Zeitschriften, Büsten, Möbel.
„Die Bibliothek ist Ende des Jahres voll, das Archiv Mitte des nächsten,“ sagt die 45-jährige gebürtige Hessin. „Wir hoffen auf ein Zwischenlager, das uns das Weitersammeln erlaubt. Parallel dazu müssen wir bauen. Marbach soll schließlich keine rein museale Einrichtung werden: ein Archiv für die Literatur bis ungefähr 2010, sondern sich weiterentwickeln und nicht anderen Institutionen diese Aufgabe überlassen.“
Die Archivleiterin weiß sich im Einklang mit den Empfehlungen, die der Wissenschaftsrat 2011 für die Institution gegeben hat. Auf dem Campus der Schillerhöhe solle gebaut werden, hieß es da unter anderem. Das ist bis jetzt nicht passiert. „Wir greifen Dinge auf, die eigentlich schon im Raum standen, aber jetzt eine neue Dringlichkeit gewinnen.“ Und diese Dringlichkeit ist nicht nur durch Platzmangel bedingt, denn das Archiv ist eben nicht nur ein Schutzort der Vergangenheit, sondern steht im Sturm der Gegenwart und Zukunft.
Das digitale Zeitalter wirbelt die hier gepflegten Tätigkeiten gründlich auf. Texte entstehen kaum mehr handschriftlich. Nach- oder Vorlässe enthalten plötzlich wie jüngst bei dem Philosophen Peter Sloterdijk 70 000 E-Mails. Autoren interagieren mit ihrem Publikum über Social-Media-Kanäle. Hinzu kommt die enorme Aufgabe der Digitalisierung des vorhandenen Materials, etwa Kafka, Rilke und Celan. „Das sind alles ziemlich neue Anforderungen, auf die das Archiv derzeit weder personell noch räumlich ausgerichtet ist.“
Aus unserem Plus-Angebot: Marbach, Kafka und der Prozess
Wie eine bauliche Antwort aussehen könnte, ist schon klar umrissen. Erschließung und Forschung sollen enger zusammenrücken. Sandra Richter schwebt ein offenes Forschungsarchiv mit einem jedermann zugänglichen Schaumagazin vor, in dem man Einblick in die eindrucksvollen Bestände gewinnen kann – kein zusätzliches Literaturmuseum, sondern ein Erfahrungsraum für die Vielfalt dessen, was sonst immer nur punktuell in Ausstellungen ans Licht der Welt und ins Bewusstsein gelangt.
Und was gehört da nicht alles dazu, außer dem Erwartbaren: eine der größten Totenmaskensammlungen, eine ganze Gemäldegalerie, ein riesiges Tonarchiv, das Dokumente seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts umfasst. Computerspiele hätte man eher für den Gottseibeiuns einer Einrichtung wie dieser gehalten. Hier werden sie erfasst, sofern sie die Wahrnehmung und den Begriff von Literatur beeinflussen und mit Texten in Austausch treten. „In unserer Gesellschaft, in der sich der Stellenwert von Literatur sehr verändert hat, ist eine unserer Aufgaben, literarische Erfahrung neu zu ermöglichen,“ sagt Sandra Richter, die aus ihrer langjährigen Lehrerfahrung am King’s College London und an der Stuttgarter Universität schöpfen kann.
Rio Reisers Nachlass kommt
Wer weiß schon, dass in der Marbacher Bibliothek seit vielen Jahren Bücher und Tondokumente von ausgewählten Liedermachern gesammelt werden? Jetzt soll der Nachlass Rio Reisers ins Archiv kommen, der mit seiner Band Ton Steine Scherben einst den Soundtrack zur Revolte der Siebzigerjahre geliefert hat. Die Klangwelt des Archivs liegt der passionierten Saxofonspielerin am Herzen. Auch wenn sie selbst immer weniger Gelegenheit findet, musikalisch zu intervenieren – zuletzt an einem Wochenende im Februar, als die kleinere der beiden Töchter wieder einmal nicht Geige üben wollte.
„Reißen wir die Mauern ein, die uns trennen“, lautet eine Liedzeile Rio Reisers. Auf der Schillerhöhe sollen in einigen Jahren die Mauern des alten Zanker-Bades fallen. Auf den frei werdenden Flächen und dahinter könnte das neue Forschungsmagazin realisiert werden. Das ganze Ensemble auf dem Hügel würde dadurch stärker zusammenwachsen. Die geschätzten Kosten belaufen sich auf etwa 60 bis 70 Millionen Euro. Der Ball liegt im Feld der Politik. Bis Herbst würde sich die umtriebige Archivleiterin wünschen, dass die Prozesse so weit fortgeschritten sind, dass man genauer planen kann.
Aufbruch und Bewegung hat man sich mit der Berufung Sandra Richters versprochen. Auf leichtfüßige Weise scheint sie genau das einzulösen. Und noch ehe der Morgen richtig begonnen hat, huscht sie schon wieder davon, um noch rechtzeitig die nächste S-Bahn nach Marbach zu erreichen. Es geht schließlich um die Zukunft der Literatur.