Vor dem Landgericht Berlin hat der Prozess gegen die mutmaßlichen Mörder von Jim Reeves begonnen. Seine prominente Schwester Shary tritt als Nebenklägerin auf. Eine Begegnung mit einer starken Frau.

Berlin - Doch, sie ist es. Der Justizvollzugsbeamte am Eingang des Landgerichts Berlin muss zweimal hinschauen, um den Namen aus ihrem Pass mit ihrem Gesicht in Verbindung zu bringen. Millionen Zuschauer kennen es aus dem Kinderfernsehen. 16 Jahre lang hat Shary Reeves mit ihrem Kollegen Ralph Caspers „Wissen macht Ah!“ moderiert. Eine Sendung, in der sie Kindern Fragen beantwortet hat wie: „Warum haben Kamele Höcker?“ Witzig, schlagfertig, immer mit einem Augenzwinkern.

 

Die Shary Reeves, die an diesem Tag die breite Treppe in die erste Etage hochläuft, ist eine andere. Still, in sich gekehrt. In der Nacht zum 1. Februar 2016 wurde ihr Bruder Jim (47) ermordet. Jetzt stehen seine mutmaßlichen Mörder vor Gericht. Pawel A. und Adam K., 24 und 31 Jahre alt. Was ihnen die Staatsanwaltschaft zur Last legt, ist so grausam, dass es sich kaum in Worte fassen lässt.

Die Geschwister Reeves treten als Nebenkläger auf

Auch Shary Reeves (42) fehlen die Worte. Das hat sie schon am Telefon gesagt. Eigentlich will sie nicht öffentlich über den Tod des Bruders sprechen. Es ist nicht ihre Art, mit Gefühlen hausieren zu gehen. Dann redet sie doch. Sie sagt, über ihre Familie seien so viele Lügen verbreitet worden. Jetzt wolle sie mal reden.

Sie und ihre Geschwister treten als Nebenkläger in diesem Prozess auf. Shary Reeves sagt, ihr Verhältnis zu ihrem Bruder sei nicht das beste gewesen. „Er hat zwei Seiten gehabt, eine humorvolle und einfühlsame und eine dunkle.“ Aber, dass sie ihre Anwälte für ihn kämpfen lassen, verstehe sich doch von selbst. „Das sind wir ihm schuldig.“

Jim war schwarz – und bisexuell

Deshalb sitzt sie jetzt mit ihrer Schwester Terry (50) und ihrem Bruder Andrew (46) in Saal 621, und schaut den Angeklagten ins Gesicht, so, als finde sie dort vielleicht die Antwort auf die Frage nach dem Warum. Der ältere von beiden, Pawel A., ist ein drahtiger 30-Jähriger mit Brille. Er trägt eine Tätowierung quer über dem Hals. Adam K., 24, ist einen Kopf größer, ein korpulenter Glatzkopf. Sein Blick ist leer.

Den beiden wird vorgeworfen, Jim Reeves brutal gequält und ermordet zu haben – aus rassistischen und homophoben Gründen. Reeves war schwarz – und bisexuell. In jener Nacht im Februar 2016 hatte er in Zimmer 25 des Hostels „Happy Go Lucky“ in Berlin-Charlottenburg eingecheckt. Nach einem Streit mit seiner Freundin stand er plötzlich auf der Straße. Er suchte ein Bett für die Nacht. Elf Euro kostete der Platz im Sechsbettzimmer. Mehr konnte er sich nicht leisten.

Ein Ende wie im Horrorfilm

Dabei war er mal ein Popstar. Fotos zeigen einen Mann mit sorgfältig gestutztem Bart und Dreadlocks, blondiert. Mitte der neunziger Jahre hatte er es mit seiner Euro-Dance-Band „Sqeezer“ an die Spitze der Charts geschafft. Dann der Absturz. Alkohol, Drogen. Der Mord im Hostel. Ein Ende wie im Horrorfilm.

Reeves, so liest es die Staatsanwältin vor, habe den Männern „sexuelle Handlungen angetragen“. Die hätten sich auf ihn gestürzt, um ihn zu töten, „grausam und aus niedrigen Beweggründen.“ Einer von beiden kniete sich auf seinen Brustkorb und hielt ihn fest. Der andere schlug ihn mit Fäusten und einem Stuhl ins Gesicht. Als der Stuhl zerbrach, penetrierte er ihn mit dem Stuhlbein. Nein, man hat sich nicht verhört. Die Staatsanwältin hat gerade von „Pfählung“ gesprochen.

Reeves Tod muss qualvoll gewesen sein

Shary Reeves sitzt wie angewurzelt auf ihrem Platz. Die Angeklagten schweigen. Sie werden sich auch später nicht äußern, sagen ihre Anwälte. Ein Dolmetscher übersetzt ihnen die Anklageschrift ins Polnische. Die besteht zu zwei Dritteln aus den Verletzungen, die Gerichtsmediziner an der Leiche des Opfers festgestellt haben. 15 gebrochene Rippen. Leber und Milz, beide gerissen. Der Darm perforiert. Es kostet nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, wie qualvoll dieser Tod gewesen sein muss. „Jim Reeves ist bei vollem Bewusstsein gestorben“, resümiert die Staatsanwältin. Seine Schwester schluckt.

„Es ist schlimmer als Fiktion“ sagt sie später, als sie in einem kleinen Café vis-à-vis des Gerichts in einen Sessel sinkt. Der Auftritt hat sie erschöpft. Sie sagt, drei Monate lang habe sie das Verbrechen aus dem Leben gerissen. Aber gearbeitet habe sie trotzdem.

Shary Reeves schaffte es in die Frauen-Bundesliga

Hat sie keine Angst, Opfer eines rassistischen Übergriffs zu werden? Reeves schaut entgeistert. „Ich komme aus Köln-Kalk“, sagt sie, und so, wie sie den Namen dieses Ortes ausspricht, klingt er wie die Bronx. In den achtziger Jahren war ihre Familie die einzige schwarze unter Italienern, Polen, Jugoslawen und Türken. In der Hierarchie der Zuwanderer standen sie ganz unten. „Bimbos“ wurden sie genannt.

Reeves sagt, alle vier hätten sie unter dem alltäglichen Rassismus gelitten. Doch der Fußball habe sie gerettet. Sie war das einzige Mädchen auf dem Bolzplatz. Ihre Hautfarbe interessierte niemanden, solange sie Tore schoss. Shary Reeves war talentiert. In den neunziger Jahren schaffte sie es bis in die Frauen-Bundesliga. Eine Karriere wie aus dem Lehrbuch für Integration. Angst, nein, Angst habe sie seither keine mehr, versichert sie. Die Bilder des toten Bruders gingen ihr zwar nicht pausenlos durch den Kopf. Aber an so einem Tag wie diesem kommen sie eben doch wieder zurück.

Drei Todesfälle in sechs Wochen

Es liegt ein schwieriges Jahr hinter hier. Vier Tage nach dem Mord an ihrem Bruder starb ihr Vater, ein Philosophie-Professor, Journalist und Autor in Kenia. Sie war auf dem Weg zu seiner Beerdigung, als sie die nächste Hiobsbotschaft erreichte. „Oma“ war tot, ihre Pflegemutter. Eine Rentnerin aus Köln, die schon elf eigene Kinder großgezogen und es genossen hatte, jetzt neben ihren Enkeln auch noch ein kleines schwarzes Mädchen im Haus zu haben.

Shary Reeves war elf Monate, als sie zu „Oma“ und „Opa“ kam. Ihre Eltern hatten sich scheiden lassen. Der Vater war nach Kenia zurückgekehrt. Ihre Mutter, eine Krankenschwester aus Tansania, war überfordert mit vier Kindern und einem Vollzeit-Job. Sie gab ihre Jüngste zu Familie Tesch. Das war Sharys Glück, vielleicht sogar ihre Rettung. Ein mit Efeu bewachsenes Haus im Kölner Stadtteil Vogelsang wurde ihr Zuhause. Sie sagt, hier habe sie etwas gefunden, von dem sie noch heute zehre. Das Gefühl, bedingungslos geliebt zu werden.

Ihr Handy blinkt auf. Schon wieder ein Anruf. So geht das schon den ganzen Tag. Im Juni hat sie ihren Job bei „Wissen macht Ah!“ aufgegeben. Sie sagt: „Ich wollte mal was Anderes machen.“ Aber als Moderatorin, Autorin und Social-Media-Beraterin sei sie immer noch gut im Geschäft. Abends hat SPD-Generalsekretär Hubertus Heil sie und andere Kreative eingeladen, um zu testen, wie die Politik bei ihnen ankommt. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, zum ersten Mal an diesem Tag. Sie sagt. „Ich werde ihm sagen, wie die Partei ihren Auftritt in den sozialen Netzwerken optimieren kann.“

Shary Reeves glaubt an ein Leben nach dem Tode

Drei Todesfälle in sechs Wochen. Aber das Leben ist weitergegangen. Irgendwie. Sie sagt, ihr Glaube habe ihr geholfen. Reeves hat ein katholisches Mädcheninternat besucht, seit sie mit sechs aus der Pflegefamilie zurückkam. Sie glaubt an ein Leben nach dem Tod. Das macht es ihr leichter, den Tod zu akzeptieren. Sie sagt, ihr Vater sei krank gewesen. Er habe losgelassen, als er vom gewaltsamen Tod seines ältesten Sohnes erfuhr. „Ich glaube, er wollte ihn über die Schwelle begleiten.“

Doch was ist das für ein Gott der es zulässt, dass ihr Bruder so grausam hingerichtet wurde? Sie sagt, es sei nicht Gottes Fehler gewesen. „Jim war eine verlorene Seele“. Ihm habe das gefehlt, was sie stark gemacht habe. Ein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Eine gute Menschenkenntnis. Die Fähigkeit, traurige Erinnerungen in einem Tresor zu verschließen. Auch ihre sind dort jetzt nicht mehr sicher. Sie sagt: „Ich bin nicht der Typ, der weint. Aber wenn ich allein bin, kommt jetzt manchmal vor, dass mich die Trauer einfach so überwältigt.“ Nicht nur deshalb ist ihr dieser Prozess so wichtig. Sie sagt: „Ich will, dass die Mörder eine gerechte Strafe bekommen, damit meine Mutter nachts wieder ruhig schlafen kann.“