Die Arbeitsverdichtung macht den Job zum „Stressfaktor Nummer eins“. Seit 1994 sollen die Fehlzeiten wegen psychischer Leiden um 80 Prozent gestiegen sein.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart/Berlin - Das Thema Burn-out wird in den Talkshows der Republik derart oft als neue Volkskrankheit ins Feld geführt, dass viele Zuschauer kaum noch hinhören mögen. Tatsache ist allerdings: seit Jahren stellen die Krankenkassen fest, dass immer mehr Beschäftigte ihrer Arbeit fernbleiben, weil sie sich gestresst fühlen. Die Behandlungskosten werden laut Bundesarbeitsministerium auf 27 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt.

 

Und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) konstatiert, dass die Fehlzeiten in den Betrieben seit 1994 aufgrund psychischer Leiden um 80 Prozent gestiegen seien. Zudem sei bei etwa 40 Prozent der Frauen und 30 Prozent der Männer, die als vermindert erwerbsfähig anerkannt werden, eine psychische Erkrankung der Grund für die Einschränkung. Jeder fünfte Renteneintritt erfolgt schon über die Erwerbsminderung.

Personalabbau führt zu Arbeitsverdichtung

In dem gleichen Maße, wie prekäre Jobs die sicheren Normalarbeitsverhältnisse verdrängen, wie Personalabbau zu einer größeren Arbeitsverdichtung führt, wie der Leistungsdruck im Zuge der Globalisierung wächst und wie die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben zu Gunsten eines Flexibilitätsgewinns verschwimmen, nehmen auch die Beschwerden der Arbeitnehmer zu. Der Gewerkschaftsbund ist ihnen in der am Dienstag vorgestellten Repräsentativumfrage 2011 „Gute Arbeit“ unter 6083 Beschäftigten aus mehr als einem Dutzend Branchen auf den Grund gegangen.

„Bundesweit jeder zweite Beschäftigte (52 Prozent) fühlt sich bei der Arbeit sehr häufig oder oft gehetzt.“

In einer immer straffer durchorganisierten Arbeitswelt ist Hetze eine Alltagserfahrung. Frauen klagen darüber häufiger als Männer. Besonders betroffen fühlen sich auch Vorgesetzte, mit Kunden oder Patienten Tätige oder Menschen mit langen Arbeitszeiten. Spitzenwerte wurden im Gastgewerbe, im Gesundheits- und Sozialbereich sowie im Baugewerbe registriert.

„63 Prozent machen die Erfahrung, dass sie über die Jahre ständig mehr in der gleichen Zeit leisten müssen.“

Der Druck wächst. Leistungsverdichtung trifft aber nicht mehr nur bestimmte Sparten der Arbeitswelt – in allen abgefragten Segmenten werden ähnliche Erfahrungen gemacht.

Die Erfahrung gelten für alle Sparten der Arbeitswelt

„27 Prozent müssen sehr häufig oder oft auch außerhalb der Arbeitszeit für betriebliche Belange erreichbar sein. Und 15 Prozent erledigen vielfach außerhalb der Arbeitszeit Aufgaben für ihren Betrieb.“

Die Übergänge zerfließen: Ständige Erreichbarkeit sei eine durchgehende Arbeitsanforderung, stellt der DGB fest. Beschäftigte, die in der Freizeit im Einsatz sind, arbeiteten entgrenzt und unbezahlt, wird gerügt. Jeder Siebte sorge quasi mit einer Zeitspende für bessere Betriebsergebnisse.

„Jeder Fünfte leistet zehn und mehr Überstunden pro Woche.“

Zwei Drittel der Beschäftigten arbeiten demnach länger, als in ihrem Arbeitsvertrag vereinbart wurde – jeder Elfte leistet sogar 15 und mehr Überstunden. Häufiger davon tangiert sind Männer, Vollzeitzeitbeschäftigte und Vorgesetzte. Die tatsächliche Arbeitszeit beträgt für 32 Prozent der Befragten mindestens 45 Wochenstunden. Generell gilt: je mehr Überstunden absolviert werden, desto größer ist die gefühlte Arbeitshetze.

Krank an den Arbeitsplatz

„49 Prozent der Beschäftigten sind binnen eines Jahres mindestens zweimal zur Arbeit gegangen, obwohl sie sich richtig krank fühlten.“

Je größer die Leistungsverdichtung, der sich die Beschäftigten ausgesetzt sehen, desto höher ist der Anteil derjenigen, die wiederholt krank zur Arbeit gehen. Dies trifft vor allem für Menschen mit 45 und mehr Wochenstunden sowie für Geringverdiener zu. Angebote zur Gesundheitsförderung erhält der Umfrage zufolge nur jeder dritte Beschäftigte im eigenen Betrieb. Aus all dem folgert DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach: „Wir brauchen kein Konditionstraining für die Beschäftigten, sondern eine bessere Arbeitsorganisation, um Stress abzubauen.“ Nötig sei eine umfassende Strategie mit klaren Regeln für die Arbeitgeber und mit Sanktionen, falls Schutzbestimmungen missachtet werden. Ferner müssten die Sozialversicherungen den Betrieben und Beschäftigten mehr Hilfestellung geben.

Gewerkschaften bieten ein Anti-Stress-Paket an

Da das Burn-out-Syndrom wegen der monotonen, extrem kurzen Taktzeiten am Fließband auch in der Metallindustrie eine Rolle spielt, stellt die IG Metall ihren Betriebsräten seit Anfang März ein sogenanntes Antistresspaket zur Verfügung. „Es enthält praktische Instrumente, um die Risiken psychischer Belastungen am Arbeitsplatz zu erfassen und Schritte zur Prävention einzuleiten“, erläutert Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban.

Ende vorigen Jahres hatte Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen kritisiert, „dass sieben von zehn Unternehmen das Thema schleifen lassen – meist aus Unwissenheit oder Hilflosigkeit“, wie sie monierte. Strengere Gesetze seien zwar nicht nötig, weil es ausreichende Schutzbestimmungen gebe, aber es müsse besser informiert werden. Die CDU-Politikerin kündigte für 2012 eine breit angelegte Kampagne mit den Tarifpartnern, Sozialversicherungsträgern sowie Länderexperten gegen die psychische Überlastung in der Arbeitswelt an.

Humane Arbeitsbedingungen verhindern den Burn-out

„Da wollen wir mit unserem Antistresspaket helfen“, ergänzte Urban, während die Chemiegewerkschafterin Edeltraud Glänzer auf den IG-BCE-Check „Leistungsverdichtung“ verwies. Urban nahm von der Leyen zudem verstärkt in die Pflicht und bekräftigte die Forderung der IG Metall nach einer Antistressverordnung als Ergänzung zum Arbeitsschutzrecht – mit klaren Vorschriften für erlaubte Belastungen im Job. Ziel müsse sein, die „eklatante Schutzlücke bei psychischen Gefährdungen“ durch eine humane Arbeitsgestaltung zu schließen. „In diesem Sinne muss der Verpflichtungsdruck für die Arbeitgeber erhöht werden“, betonte der Sozialexperte.