Selbst im markanten Figurenkosmos der frankobelgischen Comics fällt das Marsupilami besonders auf. Am 31. Januar 1952 stellte der Zeichner Franquin den Dschungelkobold erstmals vor.

Stuttgart - Raschelt da was? Knacken da Zweige? Ruft da eine laute Stimme „Huba, Huba“? Hier, im dichten Dschungel von Palumbien? Man sieht oft nicht weit, weil Wände dichten grünen Blattwerks um einen stehen. Aber man kann trotzdem neuen Durchblick gewinnen. Wenn nämlich statt der gut erforschten Jaguare und Papageien ein viel selteneres befelltes Wesen aus dem Gebüsch auftaucht, gelb mit schwarzen Punkten, bewehrt mit kecken, richtmikroscharfen Schlappohren, einer hundefeinen Nase und einem virtuosen Multifunktionswerkzeug von Schwanz: das Marsupilami.

 

Dieses rund ein Meter große Mischwesen aus Leopard, Affe, Teddybär, Sprungfeder und Kobold sieht zwar enorm putzig aus. Es bündelt aber mehr Energie, als man seinen paar Muskeln je zutrauen würde. Da ist also mehr im Spiel, da hüpft einem der konzentrierte Geist der Natur über den Weg. Der neue Durchblick, den man in Palumbien gewinnt, ist einer auf die Herrschaftsrolle des Menschen. Irgendetwas ist mächtig schiefgelaufen in der Erdgeschichte, das Marsupilami gäbe die weit bessere Krone der Schöpfung ab.

Tarzan hätte keine Chance

Dass Palumbiens Dschungel ein reiner Fantasieort und das Marsupilami eine Comicfigur ist, tut dieser Erkenntnis keinen Abbruch, im Gegenteil. Nicht nur die Realität speist menschliche Fantasien. Ausgedachte Geschichten wirken zurück auf unser Verhältnis zur Wirklichkeit. Man denke nur an Tarzan, den weißen Herrn und Meister des afrikanischen Urwalds, eine faszinierende Groschenhefterfindung des verkrachten amerikanischen Bleistiftvertreters Edgar Rice Burroughs, der Afrika nur vom Hörensagen kannte.

Mit Tarzan, dem von Menschenaffen großgezogenen, Gorillas niederringenden und aggressive Eingeborenenstämme zähmenden Sohn eines englischen Lords, hat Burroughs einen Posterboy des Kolonialismus geschaffen, den weißen Mann, dem die Herrschaft über alle Natur und alle dunkelhäutigen Menschen zusteht. Hätte sich Tarzan je nach Palumbien verirrt, das Marsupilami hätte ihn umstandslos vom Ast gehauen. Auf Möchtegern-Dschungelherren hat es gerade gewartet.

Bloß eine Feder auf dem Buckel

Sein mehrere Meter langer Schwanz lässt sich an der Spitze zu einer veritablen Faust knoten, die mehr Drehmoment bekommt als ein Dreschflegel. Naturkundebücher nennen so etwas gerne wehrhaft, aber hier wäre das ein wenig untertrieben. So, als würde man die Superhelden der US-Comics, Superman, Batman, Iron Man oder den Hulk etwa, wacker und standfest nennen.

Auch mit dem Altern wird das Marsupilami besser fertig als unsereiner. 70 Jahre trägt es wie eine Feder auf dem Buckel. Am 31. Januar 1952 ist es Comiclesern erstmals unter die Augen gekommen, im „Spirou und Fantasio“-Abenteuer „Eine aufregende Erbschaft“. Ausgedacht hatte sich das Tier der Zeichner André Franquin, eines der großen Genies der frankobelgischen Comicszene. Anfang 1952 war der 28-Jährige seit vier Jahren für „Spirou und Fantasio“ verantwortlich und mittendrin, diesen von zwei Vorgängern geerbten Kosmos kräftig zu verändern. Das Marsupilami, das später in deutschen „Fix und Foxi“-Heften zunächst Kokomiko hieß, wurde dabei nicht einfach noch eine putzige Figur.

Ein Anker für den Zeichner

Franquins „Spirou und Fantasio“-Alben, Comicklassiker par excellence, sind auch deshalb so faszinierend, weil sie bei allem Witz und Schwung eine düstere Seite haben. In ihren Schurken, Komplotten und Konflikten wird, auch wenn alles für Kinder zugänglich bleiben soll, doch das Weltbild jenes Franquins erkennbar, der einer ungefilterten erwachsenen Gagreihe später den Titel „Schwarze Gedanken“ gab.

Das hedonistische, unbesiegbare, stets zu gutmütigem Schabernack aufgelegte Marsupilami war eine Selbstverankerung Franquins im Optimismus. Das Marsupilami nahm in seinem Dschungel gar nicht erst jedes Menschenwerk zur Kenntnis, wurde aber mit allem fertig, was sich aufdrängte.

Im Lauf der Jahre schenkte Franquin dem Tierchen eine Familie, beließ aber sein Vokabular hauptsächlich bei „Huba“, einem Laut, so vielfältig nutzbar wie der Greifschwanz. Untereinander können die Marsupilamis damit alles ausdrücken, was ihnen wichtig ist. Wenn sie dagegen wie Papageien mal einen ganzen menschlichen Satz nachsprechen, verstehen sie davon doch nur „Bahnhof“.

Anarchie und Freude

Man muss sich in die minimalistischen Wortartisten einfach verlieben. Franquin hat die Rechte am Marsupilami wohl nicht nur aus ökonomischen Gründen mitgenommen, als er „Spirou und Fantasio“ 1968 abgab. In zahlreichen Soloalben, drei TV-Serien, einem Kinofilm und viel Merchandising begegnete das Marsupilami seitdem der Gefahr der Verflachung so robust wie jeder anderen Herausforderung.

Seine Comicabenteuer, mittlerweile von Batem alias Luc Collin gezeichnet und von verschiedenen Autoren geschrieben, haben ihren Mix aus Anarchie und Akkuratesse beibehalten. Die krisenbewusste Sehnsucht nach einer Natur, die sich gegen uns behaupten kann, trifft auf die eskapistische Freude, die Realität mal kurz über den Urviehkapriolen einer schöner gezeichneten und geordneten Comicwelt zu vergessen.

Comics zum Jubiläum

Prequel
Wo kommt das Eier legende Säugetier mit dem Wunderschwanz bloß her? Schon vorm Geburtstag ist im Carlsen-Verlag „Die Bestie“ (156 Seiten, 25 Euro, ab März wieder lieferbar) erschienen, der erste von zwei Bänden von Szenarist Zidrou und Zeichner Frank, in denen wir mehr erfahren.

Gastspiel
Alle „Spirou und Fantasio“-Alben sowie die Marsupilami-Solos sind bei Carlsen lieferbar. Im August erscheint dann noch „Das Humboldt-Tier“: Der deutsche Zeichner Flix lässt das Marsupilami auf das Berlin der Weimarer Republik los.