Benjamin von Stuckrad-Barre Springer vor dem Literaturgericht

Show-Bühne oder moralische Anstalt? Benjamin von Stuckrad-Barre Foto: dpa/Georg Wendt

Benjamin von Stuckrad-Barres „Noch wach?“ ist ein eindrucksvoller Literaturcoup – das kann man natürlich auch kritisch sehen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Es kommt nicht alle Tage vor, dass die Veröffentlichung eines Romans eine Aufmerksamkeit auf sich zieht, wie sie sonst nur den ominösen Bad News zuteil wird, die angeblich das Glück von Medienhäusern ausmachen. Benjamin von Stuckrad-Barres Homestory „Noch wach?“ über die Zustände bei einem der führenden Bad-News-Produzenten des Landes hat es geschafft. Sein nur von einem weitgehend transparenten Schleier der Fiktion verhülltes Porträt der Protagonisten der aktuellen Springer-Story um omnipotenten Machtmissbrauch und boulevardeske Radikalisierungstendenzen produziert seit seiner geschickt lancierten Ankündigung Nachrichten am laufenden Band. Ob gute oder schlechte, hängt vom Standpunkt ab.

 

Fiktion und Wirklichkeit gleichen sich nicht nur im Fall der handelnden Figuren auf eine Weise, die die Chronique scandaleuse literarischer Provokationen des Personenrechts bald um ein Kapitel reicher machen könnte. Beide Sphären kommen auch darin zu Deckung, dass ein öffentlich inszeniertes literarisches Ereignis konkrete Folgen zeitigt: in Form des Rechtfertigungsdrucks, dem sich die Springer-Führung in diesen Tagen konfrontiert sieht; aber auch hinsichtlich der Sensibilisierung für das, was die Berliner Konzernzentrale mit Sicherheit nicht exklusiv hat – vergiftete Arbeitsverhältnisse, Machtmissbrauch, Sexismus.

Was könnte ein vornehmeres Zeugnis für die Literatur ablegen als ihre Kraft, die Wirklichkeit nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu verändern. Insofern könnten die gegenwärtigen Stuckrad-Barre-Festspiele keine bessere Eröffnung für die in der nächsten Woche nach dreijähriger Pandemie-Pause erstmals wieder stattfindende Leipziger Buchmesse sein. Ein Buch über das alle sprechen, das auch Menschen interessiert, die den Namen Stuckrad-Barre bisher eher für eine Cognac-Sorte gehalten hätten. Und das zudem im Zeichen einer guten Sache steht.

Es ist ein Merkmal der zeitgenössischen Literatur, dass sie Grenzen durchlässig gemacht hat. Ein Großteil der gegenwärtigen Romanproduktion segelt unter dem Banner der Autofiktion. Mittlerweile ist die Fahrrinne so breit und ausgefahren, dass eigentlich alles bequem hindurchpasst. Auch das große Ego eines Stuckrad-Barre. In seinem Roman-Coup jedoch füttert er das eigene Größenselbst mit dem privaten Material anderer Leute aus. Und die Szene, auf der er als Rächer der Schwachen agiert, ist mindestens so viel Show-Bühne wie moralische Anstalt.

Mag sich das Mitleid mit den Döpfners und Reichelts dieser Welt in Grenzen halten, liegt in dem inszenierten Rufmord doch ein Potenzial mit beunruhigenden Möglichkeiten. Einmal abgesehen davon, dass es dem inkriminierten Geschäftsmodell des Boulevards zum Verwechseln ähnlich ist. Macht die in Anspruch genommene moralische Autorität das Bloßstellen, Veröffentlichen, Weiterreichen privater Nachrichten weniger verwerflich? Und ist es okay, dass Stuckrad-Barre seinen Rosenkrieg mit dem einstigen Mentor öffentlich macht, nur weil er es kann und weil ihm für dessen genüssliche Filetierung ein Instrumentarium zu Gebote steht, dass ihm den Beifall der Zuschauer sichert? Fragen dieser Art stellen sich nicht nur hier, sondern auch wenn das royale Fernsehgericht Jan Böhmermanns seine ausgewählten Delinquenten Hohn und Gelächter preisgibt.

Auch der letzte Akt von „Noch wach?“ könnte vor Gericht spielen: „Ganz dünnes Eis“, warnt in dem Roman ein Anwalt. Vermutlich ist das aber in der publizistischen Gesamtregie des früheren Springer-Poster-Boys bereits vorgedacht. Bad News are Good News.

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