Die britische Regierung hat nun das Militär zu Hilfe gerufen, um das Fehlen von rund 100 000 Lastwagenfahrern auszugleichen. Allerdings sind bisher nur 150 Soldaten vorgesehen, die für Tanklastwagen ausgebildet werden sollen. Derweil wachsen die Lieferschwierigkeiten allerorten.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - In Angst vor einer weiteren Eskalation der Benzinkrise in Großbritannien hat die Regierung Boris Johnsons jetzt beim Militär Hilfe angefordert. Soldaten, die in aller Eile als Tanklastwagenfahrer geschult werden sollen, halten sich für einen Einsatz auf den Straßen des Vereinigten Königreichs bereit. Allerdings dreht es sich zunächst nur um 150 Soldaten, während es den Ölkonzernen zur Auslieferung ihres Treibstoffs an die Tankstellen an rund tausend Fahrern fehlen soll. Außerdem dürfte die Vorbereitung der Betreffenden auf einen solchen Einsatz rund zehn Tage dauern. „Viel zu spät und viel zu wenig“ habe die Regierung hier unternommen, klagen Johnsons Kritiker – und vom Premierminister selbst sei in dieser Krise „überhaupt nichts zu sehen“.

 

Unterdessen bildeten sich auch am Dienstag wieder lange Schlangen an der Zufahrt zu Tankstellen vor allem in englischen Stadtgebieten. Eine Großzahl von Tankstellen war erneut ganz geschlossen, weil kein Benzin verfügbar war.

Autofahrer versuchen, in Panik zu tanken

Schon seit vergangenem Samstag haben britische Autofahrer in Panik überall ihre Tanks aufzufüllen versucht, nachdem der britische Energiekonzern BP zuvor Lieferschwierigkeiten gemeldet hatte. Der Ansturm auf die Zapfsäulen hatte das Problem binnen Kurzem verschärft – und viele Tankstellen trockengelegt.

Am Dienstag glaubte die Regierung erste Anzeichen für eine „Entspannung der Lage“ zu erkennen. An den meisten Tankstellen war der Andrang aber immer noch enorm. Vielerorts musste Polizei aufziehen, um die Zufahrt zu Tankstellen zu sichern und Verkehrsstaus zu verhindern. Von mehreren Tankstellen im Land wurden im Laufe des Tages sogar regelrechte Handgreiflichkeiten zwischen Fahrern gemeldet.

Das medizinische Personal klagt bitter

Das hat Folgen: Ärzte, Pfleger und Rettungswagen-Fahrer klagten bitter, ihren Dienst nicht versehen zu können. „Wir haben hier ein echtes Problem, dass Mitarbeiter des Gesundheitswesens ihre Jobs nicht ausüben können“, hieß es beim Britischen Ärzteverband (BMA).

„Wir können nicht zwei bis drei Stunden lang irgendwo nach Benzin Schlange stehen, wenn wir unsere Patienten betreuen müssten“, erklärte ein BMA-Sprecher. Wer eine entsprechende Tätigkeit ausübe, müsse unverzüglich Zugang zu Benzin erhalten, mahnten viele Verbände – am besten über spezielle Tankstellen, deren Benzin für „Key Workers“, für Arbeiter in Schlüsselbereichen, reserviert sei.

Die meisten Ökonomen in London schwankten am Dienstag zwischen Bangen und Hoffen. So sich die Situation zur kommenden Woche entkrampfe, lasse sich der wirtschaftliche Schaden wahrscheinlich noch begrenzen, meinten sie.

Der Arbeitsausfall könnte gefährlich zu Buche schlagen

Falls die Krise aber länger andauere, könne der Arbeitsausfall gefährlich zu Buche schlagen, warnte RSM, eine Unternehmensberaterfirma: „Zumal fehlendes Benzin für Last- und Lieferwagen das Manko an Warentransporten noch verschlimmern würde, das uns bereits zu schaffen macht.“

Zweifel hat auch die Ankündigung der Regierung ausgelöst, 5000 Arbeitsvisen extra für Lkw-Fahrer aus dem EU-Bereich und aus anderen Teilen der Welt ausstellen zu wollen, um kurzfristig Abhilfe zu schaffen. Diese Visen sollen drei Monate gültig sein.

Wegen der damit unweigerlich verbundenen Bürokratie kann man mit dem Eintreffen solcher Fahrer aber nicht vor Ende Oktober rechnen. Und die Zahl von 5000 halten Experten für viel zu niedrig, weil auch die Auslieferung vieler anderer Waren stockt gegenwärtig. Immerhin fehlt es zurzeit insgesamt an rund 100 000 qualifizierten Fahrern in Großbritannien.

Schon Kurzzeit-Visen auszustellen, fällt der Regierung schwer

Schon 5000 Kurzzeit-Visen auszustellen ist der Regierung freilich schwergefallen – weil sie die betreffenden Jobs post Brexit britischen Fahrern vorbehalten wollte. Fahrer vom Kontinent „unterböten“ ihre britischen Kollegen nur, haben Johnsons Minister in den letzten Tagen mehrfach erklärt.

Rachel Reeves, die Finanzsprecherin der oppositionellen Labour Party, meinte dazu aber, die Regierungsmaßnahme sei völlig unzureichend: „Den meisten Leuten ist doch schnurzegal, ob ein Lastwagen von einem britischen oder einem ausländischen Fahrer gefahren wird – solange das Benzin in die Tankstellen kommt und sie ihre Autos damit füllen können und solange wir Lebensmittel in unseren Supermärkten haben.“

Gänzlich offen ist auch, ob europäische Fahrer überhaupt ihre Jobs in der EU aufgeben und für ein Vierteljahr nach Großbritannien übersiedeln wollen, um hier auszuhelfen. Viel zitiert wurde am Dienstag eine Reaktion des niederländischen Lastwagenfahrerverbandes. In dieser hieß es: „Die EU-Fahrer, mit denen wir gesprochen haben, werden nicht mit einem Kurzzeit-Visum nach Großbritannien kommen, um den Briten aus der Scheiße zu helfen, für die sie selbst verantwortlich sind.“