Wer sich nicht selbst ins Hochgebirge traut, kann den Stress in der Wand im Kino erleben. In „Everest“ scheinen Abgründe und Schneemassen zum Greifen nah. Aber man sollte sich die Anorakfarben merken, um die Figuren auseinander halten zu können.
Stuttgart - Mehr als 250 Menschen sind bei der Besteigung des Mount Everest bisher ums Leben gekommen. Aber der mit 8848 Metern höchste Berg der Welt hat für Bergsteiger und Abenteurer auf der Suche nach dem superlativen Kick nichts an Attraktivität verloren. Nun blickt der isländische Regisseur Baltasar Kormákur in „Everest“ auf eines der größten Desaster der Bergsteigergeschichte zurück.
Mehr als dreißig Alpinisten versuchten am 10./11. Mai 1996 auf der Nord- und der Südroute den Gipfel des Everest zu erreichen. Ein plötzlich hereinbrechender Wetterumschwung verwandelte den Abstieg in eine Tragödie, in deren Verlauf acht Menschen ums Leben kamen. Für sein Bergdrama hat Kormákur nicht nur IMAX- und 3-D-Technologie zur Verfügung gestellt bekommen, sondern auch eine hochkarätige Besetzung unter Vertrag genommen.
Sicherheit statt Gipfelsturm
In das Drama hinein führt uns der erfahrene neuseeländische Bergsteiger Rob Hall (Jason Clarke), der zu Hause seine schwangere Frau (Keira Knightley) zurücklässt und nach Kathmandu aufbricht. „Adventure Consultants“ nennt sich sein Unternehmen, das zahlungskräftige Kundschaft für einen Reisebeitrag von bis zu 65 000 Dollar auf den Gipfel des Everest bringen will. Hall ist eine durch und durch Vertrauen erweckende Persönlichkeit. Die Sicherheit der Kunden steht für ihn an erster Stelle. Eine Gipfelsturmgarantie gibt es hier nicht.
In der abendlichen Runde stellt der Journalist Jon Krakauer (Michael Kelly) die Gretchenfrage: „Warum tut man sich das an?“ Die Antworten fallen, gemessen an der Gefahr und der Anstrengung, die mit dem Aufstieg auf einen Achttausender verbunden ist, überraschend nichtssagend aus. Die japanische Bergsteigerin Yasuko Namba (Naoko Mori) – die einzige Frau in der Runde – will den letzten der sieben „Summits“ zu ihrer Sammlung hinzufügen. Der reiche Texaner Beck Weathers (Josh Brolin) kann nur in der Höhenluft dem Gefühl der Lebensleere entfliehen. Der britische Postbote Doug Hanson (John Hawkes) will zeigen, dass auch einfache Leute wie er Außergewöhnliches vollbringen können.
Höhenangst auf der Aluleiter
Der Rest der Gruppenmotivation bleibt nebulös, und damit mogelt sich Kormákur um die Kernfrage eines jeden Bergsteigerdramas herum. Vielleicht weil er weiß, dass die Motive weniger etwas mit Heldenmut als mit masochistischer Selbstüberschätzung zu tun haben – was sich in dem Erzählschema einer Blockbuster-Produktion schlecht vermitteln lässt. Ohnehin gibt sich „Everest“ als Ensemble-Stück viel zu früh mit oberflächlichen Figurencharakterisierungen zufrieden, auch wenn die erfahrene Schauspielerriege aus den wenigen Anhaltspunkten, die das Drehbuch von William Nicholson und Simon Beaufoy liefert, das Maximale herauszuholen versucht.
Der Berg als Hauptdarsteller
Die eigentliche Hauptrolle spielt in diesem Film, der in Nepal und den italienischen Alpen gedreht wurde, natürlich der Berg selbst, dessen Antlitz in feinstem 3-D erstrahlt. Kormákur nutzt die Technik auch, um einige reißerische Höhenangstmomente zu generieren, etwa wenn die Expeditionsgruppe auf einer Aluleiter über einen Abgrund balancieren muss.
Als der Sturm dann schließlich beim Abstieg über die Alpinisten hereinbricht, verliert auch der Film jeglichen dramaturgischen Halt. In unübersichtlichen Schnittfolgen wird zwischen den verschiedenen Bergsteigern, die an unterschiedlichen Streckenabschnitten gegen die Unbilden der Natur kämpfen, hin und her gezappt. Wer sich da nicht frühzeitig die Anorakfarben der Teilnehmer gemerkt hat, tut sich schwer zu verfolgen, wer hier wo gerade vom Schnee verweht wird.
Hinein ins Desaster
Dafür stürmt, knirscht und rumpelt es eindrücklich. In bester Dolby-Qualität scheinen die herantosenden Schneemassen im Kinosaal zum Greifen nah. Eine ähnliche Tiefe, wie sie hier in Optik und Sound erreicht wurde, hätte man sich auch für die Entwicklung von Erzählung und Figuren gewünscht.
Mit aller cineastischer Gewalt wird man ins Desaster hineingezogen, ohne dass man wirklich um die Figuren bangt, die unter Kormákurs Regie kaum emotionale Bindungskräfte aufbauen. Was ein Bergdrama vor eindrucksvoller Naturkulisse hätte werden können, verkümmert zu einem gefühlslahmen 3-D-Spektakel.
Everest. Großbritannien, USA 2015. Regie: Baltasar Kormákur. Mit Josh Brolin, Jake Gyllenhaal, Jason Clarke, John Hawkes, Emily Watson, Robin Wright. 122 Minuten. Ab 12 Jahren.
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