Mit seinem „Vorleser“ wurde Bernhard Schlink weltberühmt. Nun erteilt der Romancier und Richter eine neue Lektion in deutscher Geschichte.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Der Gegenstand ist dann doch entschieden zu groß für diesen schmalen Roman: die deutsche Geschichte, von Bismarck bis heute. Dabei hat sich Bernhard Schlink schon öfter als geschickter Verknapper erwiesen. Am erfolgreichsten in seinem mit Kate Winslet verfilmten Weltbestseller „Der Vorleser“, worin der schreibende Richter dem deutschen Schuldtrauma in einer rührenden amour fou zwischen einem jugendlichen Schöngeist und einer analphabetischen KZ-Wärterin kurzen Prozess macht. Was für manchen Leser freilich dann doch, um im juristischen Sprachgebrauch zu bleiben, verdächtig nach Revision klang.

 

Offensichtlich ist der Autor von deutschen Verhältnissen ähnlich fasziniert wie von der obsessiven Neigung zu älteren Damen. Denn sein neuer Roman führt abermals beide Leidenschaften zusammen. Die Titelheldin „Olga“ wird darin für den Erzähler von der Kinderfrau zur Muse der Geschichte. Und dies darf man durchaus in einem allegorischen Sinn verstehen, denn ihr Leben entfaltet sinnbildlich, was es Schlink drängt, über deutsche Schicksalsmomente mitzuteilen.

Die fatale Liebe zum Großen

„Am liebsten steht sie und schaut“, so wird Olga eingeführt. Sie ist eine Verkörperung des Kontemplativen. Mit einem reichen Gutsbesitzerssohn schließt sich das Mädchen aus ärmsten Verhältnissen in einer lebenslangen Liebe über die Standesgrenzen hinweg zu einem schönen Gegensatzpaar zusammen. Denn ihr stürmisches Idol – „kaum konnte er stehen, wollte er schon laufen“ – ist in allem Repräsentant einer aktiven Lebensform. Ihn drängt es, über sich hinauszuwachsen, das Weite zu suchen, wenn es sein muss im Kampf gegen die Herero in Deutsch-Südwest. Doch bevor der junge Stürmer und Dränger am Vorabend des Ersten Weltkriegs in den weißen Weiten einer Polarexpedition verschwindet, zieht es ihn immer wieder zurück. Die Heimat ruft – und Olga.

Das Geschöpf, das aus der Liaison von Vita contemplativa und Vita activa hervorgeht, wird dann den nächsten großen Krieg erleben, erst als Architekt – klar, die Liebe zum Großen –, dann als SS-Mann, auch wegen einer unglücklich verlaufenden Liebe zu einer intellektuell überlegenen Jüdin, ja, ja, die schlauen Juden. Der väterliche Traum vom weiten Horizont und der Leere des Augenblicks kurz vor dem Sonnenaufgang lebt im Sohn als entvölkerter Lebensraum im Osten weiter.

Muffige Schönfärberei

Nach Flucht, Vertreibung landet Olga schließlich im Haushalt eines westdeutschen Pfarrhauses, wird zur mütterlichen Freundin des Erzählers und zur Zeugin der nächsten deutschen Verirrung. 68 – wieder einmal zu groß gedacht, diesmal in moralischer Hinsicht.

An was liegt das nur? An Bismarck natürlich, auf ihn wird in Schlinks literarischem Schuldverschiebungssystem alles zurückgeführt: Bismarck, der Wille zum Großen und die Innerlichkeit. So sind sie halt, die Deutschen, so bekommt man alles unter einen Hut, Kolonialverbrechen, Holocaust, Studentenrevolte.

Um diese einfältige Sicht dokumentarisch aufzumöbeln, erfindet Schlink einen Briefwechsel. Doch der platte Ansichtskartenton dieser Dokumente dürfte keiner richterlichen Echtheits-Prüfung standhalten. Man kann nicht sagen, dass diese Geschichtslektion den Verdacht muffiger Schönfärberei ausgeräumt hätte.

Bernhard Schlink: Olga. Roman. Diogenes Verlag. 320 Seiten, 24 Euro.