Aber auch die Sache mit den Fliehkräften und den Gründen für deren Entstehen beschäftigt die Festredner. „Viele von uns können sich kaum vorstellen, was es heißt, wenn über Nacht alle Gewissheiten wegbrechen“, sagt Müller. Als „Zeit tiefer Einschnitte und Verlustängste“ beschreibt er die Lebenserfahrungen vieler Ostdeutscher in den vergangenen 28 Jahren. „In dieser Zeit entstanden auch Wunden.“

 

Bekenntnis zum Unperfekten

Dass in der gegenwärtig polarisierten Debatte die mühsame demokratische Kernkompetenz des Differenzierens gern vergessen wird, daran erinnert Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. „Ohne den Versuch, einander anzuhören geht es nicht“, so Schäuble – und die Vielfalt bezeichnete er als „Wert an sich“, der Neugierde erfordere, und das Interesse am Austausch. „Auch in Deutschland begegnet uns die populistische Anmaßung, wieder das ‚Volk’ in Stellung zu bringen, gegen politische Gegner, gegen vermeintliche und tatsächliche Minderheiten, gegen die vom Volk Gewählten.“ Der Souverän aber sei keine Einheit, sondern eine „Vielheit widerstreitender Kräfte“.

Der Bundestagspräsident spricht in seiner Rede auch den wachsenden Wunsch nach raschen, perfekten Lösungen an. Die Politik müsse eingestehen, dass sie nicht alle Probleme lösen könne. „Wir müssen lernen, mit dem Unperfekten zu leben. Wer das Perfekte anstrebt, landet in der Diktatur.“ Schäubles Rezept: ein „Dreiklang für einen zeitgemäßen Patriotismus: Selbstverstrauen, Gelassenheit, Zuversicht.“