Ein Fall von extremer sexueller Gewalt bei der Klassenfahrt einer Berliner Schule schockiert die Öffentlichkeit. Die genauen Hintergründe sind bis jetzt unklar. Unabhängig davon fordert der Schulpsychologe Klaus Seifried eine bessere Gewaltprävention an Schulen.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Berlin - Ein Zehnjähriger ist von drei seiner Mitschüler vergewaltigt worden. Wir haben über den Vorfall ausführlich berichtet. Doch wie konnte es zu dieser Eskalation im Grundschulalter kommen? Welche Rolle spielt es, dass die Täter Flüchtlingskinder waren? Und wie sollten Lehrer und Schüler mit Gewalt in der Schule umgehen? Der Berliner Schulpsychologe Klaus Seifried gibt Antworten.

 

Herr Seifried, der Fall der Vergewaltigung eines zehnjährigen Schülers durch Gleichaltrige in Berlin erschüttert viele Menschen. Werden Gewalttäter immer jünger?

Das ist ein sehr ungewöhnlicher Fall. Auch die Brutalität ist ungewöhnlich für das Alter. Kinder im Vorschul- und Grundschulalter kennen sexuelle Spiele und fassen sich auch mal an. Aber in dieser Heftigkeit mit einem Vergewaltigungs- und Missbrauchsimpuls – das ist außerordentlich. Das zeugt von einer moralischen Enthemmung und großen Aggressivität.

Vor allem die sexualisierte Gewalt noch vor der Pubertät ist ungewöhnlich.

Dies ist ein Zeichen dafür, dass diese Kinder solche Dinge schon gesehen oder selbst erlebt haben. Eigentlich haben Zehnjährige ganz andere Interessen: Sie nehmen einem anderen Kind etwas weg, hauen sich vielleicht. Aber sie sagen nicht wie die Täter: „Ich fick dich.“

Sie haben in Berlin jahrzehntelang als Lehrer und Schulpsychologe gearbeitet. Haben Sie eine ähnliche Tat schon einmal erlebt?

Nein, so etwas habe ich noch nie erlebt. Natürlich kommen Übergriffe vor – etwa wenn ein Junge einem Mädchen unter den Rock greift, sie angrapscht oder vulgär anspricht. Das gibt es auch schon in der Grundschule. Auch sexuellen Missbrauch in den Familien habe ich erlebt. Aber ein derart brutaler Übergriff mit Festhalten, Demütigungen und sexuellem Missbrauch durch Kinder – das ist ganz und gar ungewöhnlich.

Wie kann es zu einem solchen Ausbruch von Aggression unter Kindern kommen?

Viele Flüchtlingskinder haben auf der Flucht Erfahrungen mit Gewalt und Missbrauch gesammelt. Sie müssen jetzt damit umgehen. Die meisten dieser traumatisierten Kinder und Jugendlichen verarbeiten ihre Erlebnisse, indem sie sich zurückziehen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatten auch diese drei Kinder auf der Flucht Gewalterfahrungen. Unter Umständen haben sie gelernt, dass sie sich mit Aggression und Gewalt durchsetzen können und damit Erfolg haben.

Und jetzt wenden sie in ihrem Alltag in Deutschland das an, was sie erlebt haben.

Das kann aber überhaupt keine Entschuldigung für eine solche Tat sein. Auch wenn sie selbst missbraucht wurden und traumatisiert sind, darf das nicht als Entschuldigung dienen!

Ist dieser Fall ein extremes Beispiel für eine neue Stufe von Gewalt an Schulen?

Das glaube ich nicht. In arabischen Ländern sind sexuelle Übergriffe auf Jungen viel stärker verbreitet als bei uns. In unserer Gesellschaft kennt man eher sexuelle Übergriffe auf Mädchen. Das ist das Besondere an diesem Fall. Aber: Die Gewalt in dieser Intensität hat in Deutschland nicht dramatisch zugenommen.

Was kann man tun?

Das Wichtigste ist die Prävention. Man muss Kindern klarmachen, dass sie sich wehren müssen. Mitschüler haben die Verantwortung einzuschreiten, das Opfer zu schützen oder die Lehrer zu informieren.

Leicht gesagt, wenn man Angst hat.

Die Schule muss aggressiven und gewalttätigen Schülern klare Grenzen setzen. Andererseits brauchen sie Alltagstrukturen und Bezugspersonen, die verlässlich sind, die ihnen Halt geben. Die Schule ist dabei eine wichtige Institution, weil die Kinder rauskommen aus der Flüchtlingsunterkunft und ihrem Umfeld. Sie können mit anderen Kindern zusammen sein, können ihren Eltern zeigen, was sie gelernt haben.

Was ist mit ihren schrecklichen Erlebnissen in ihrer Heimat und auf der Flucht?

Man muss als Schulpsychologe gar nicht unbedingt auf die traumatischen Erlebnisse eingehen. Manche Menschen wollen ihr Trauma einkapseln. Verdrängung kann ein wichtiger Impuls sein, um sich zu stabilisieren. Auf der anderen Seite sollten Lehrer sensibel sein und Schulpsychologen um Rat fragen, wenn ein Kind besondere psychologische und therapeutische Hilfe braucht, um seine traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten.

Ist die Realität nicht viel mehr durch überforderte Schüler, Eltern und Lehrer geprägt?

Ja und nein. Viele Bundesländer bieten geflüchteten Kindern so bald wie möglich Unterricht an. Gerade in Berlin ist die Situation relativ gut mit einem Schlüssel von 1:5000 – also ein Schulpsychologe für 5000 Schüler. In Sachsen und Niedersachsen haben wir einen Schlüssel von 1:14 000, in Baden-Württemberg von 1:7100. Der internationale Standard in hoch entwickelten Ländern liegt jedoch bei 1:1000 bis 1:2000.

Was raten Sie Kindern und Jugendlichen?

Macht es öffentlich, wehrt euch! Täter probieren es oft aus mit einer blöden Bemerkung. Das nächste Mal schubsen sie, beim dritten Mal schlagen sie zu. So geht das immer weiter, wenn das Opfer sich nicht wehrt.

Zwei der Täter stammen aus Afghanistan, der dritte aus Syrien – spielt das eine Rolle?

Es sind vielmehr die Vorerfahrungen, die eine entscheidende Rolle spielen. Wenn man syrische Frauen fragt, werden viele von ihnen über Vergewaltigung und Missbrauch erzählen.

Und ihre Kinder haben das gesehen.

Unter Umständen. Aber ich wiederhole mich: All das kann keine Entschuldigung sein. Das muss man ganz deutlich sagen.

Was geschieht jetzt mit Opfer und Tätern?

Der Opferschutz steht an erster Stelle. Aber genauso wichtig ist es, dass sich die Schulpsychologen auch um die Täter kümmern. Niemand kann wollen, dass aus ihnen Intensivstraftäter werden. Sie müssen sozial integriert werden, soziales Miteinander lernen und Schulerfolge haben. Man muss den Tätern auch eine Chance und Perspektiven geben. Vor allem darf man sie nicht mit ihrer Aggression und Gewalterfahrung alleine lassen.

Schulexperte aus Berlin

Erfahrung Klaus Seifried ist Diplom-Psychologe und Psychotherapeut. Zwölf Jahre lang arbeitete er als Lehrer an Haupt- und Gesamtschulen in Berlin und 26 Jahre als Schulpsychologe.

Verband Seit 1996 gehört er zum Bundesvorstand der Sektion Schulpsychologie im Berufsverband Deutscher Psychologen/-innen. Seit 2016 ist er freiberuflich in der schulpsychologischen Beratung, Supervision und Fortbildung von Lehrern tätig.