Das Festival wird politischer und gegenwärtiger – Burhan Qurbanis „Berlin Alexanderplatz“ etwa ist nah am Geist der brutalen Vorlage und zugleich hart am Puls der Zeit.

Berlin - Wenn politische Themen starke Gefühle auslösen, werden sie in den sozialen Medien zerpflückt“, sagt die Oscar-Preisträgerin Cate Blanchett am Montag im Berliner Hebbel-Theater. „Die Worte lassen uns im Stich, die Bilder nicht.“ Sie gehört zu den Gästen, die ihre Inspiration mit jungen Kollegen teilen. Blanchett ist mit der Serie „Stateless“ beim Festival, in der es um die menschenfeindliche Flüchtlingspolitik Australiens geht. Und sie stützt ihre These mit Verweis auf den Dokumentarfilm „Born in Evin“ ihrer deutschen Kollegin Maryam Zaree, die neben ihr auf dem Podium sitzt und im Film ihrer Geburt in einem iranischen Gefängnis nachforscht: „Wie da iranische Frauenrechtlerinnen einander umarmen, das braucht keine Sprache!“, sagt Blanchett.

 

Ein großes Talent ist der afghanisch-stämmige Stuttgarter Burhan Qurbani (39), der schon 2010 im Wettbewerb der Berlinale stand mit dem Episodenfilm „Shahada“, seiner Diplomarbeit an der Ludwigsburger Filmakademie. Nun ist Burhani zurück mit einer spektakulären Neuverfilmung von Alfred Döblins Großstadt-Roman „Berlin Alexanderplatz“ von 1929, und er produziert starke Bilder wie auch eine starke Tonmischung aus Musik, Sounds und Döblinscher Sprachgewalt. Ganze Romanzeilen fließen ein, vom „Schnitter Tod“ bis zur „großen Hure Babylon“ aus den Offenbarungen des Johannes.

Übersteigertes männliches Geltungsbedürfnis

Der Roman erzählt vom schlichten Franz Biberkopf, der sich mühsam durchschlägt und daran scheitert, „anständig“ zu bleiben. Die Serie „Babylon Berlin“ – der Titel zitiert Döblin – zeigt anschaulich die desolaten Zustände von damals. Qurbani nun verlegt die Handlung in die Gegenwart und zu denen, die heute am Rand leben: Migranten ohne Perspektive. Im stolzen Afrikaner Francis (Welket Bungué), den sie in Berlin bald Franz nennen, lebt die Versuchung weiter: Ehrlich sein ist hart, der Psychopath Reinhold (Albrecht Schuch, „Bad Banks“) lockt Franz ins Drogengeschäft. Döblins Figuren und Wendungen sind alle da, Franz verliert einen Arm, verliebt sich in die Prostituierte Mieze (Jella Haase, „Fack ju Göhte“) und kann nicht aussteigen.

Man kann kaum wegsehen und zugleich kaum hinsehen – mit breiter Brust knallt Bungué den Zuschauern das übersteigerte Geltungsbedürfnis auf die Augen, das Franz böse Tiefschläge einbringt. Reinhold ist ein physischer und verbaler Vergewaltiger auf allen Ebenen, und Schuch gibt ihm die Aura eines entrückten Clowns. Das Publikum im Berlinalepalast ächzt, seufzt und stöhnt – es wird mit dem Protagonisten gemartert, drei Stunden lang. Und dass die Migranten pauschal als potenzielle Drogendealer erscheinen, hätte einem biodeutschen Regisseur womöglich direkt Rassismus-Vorwürfe eingebracht.

Gelbwesten versinken im digitalen Chaos

„Wir wollten eine jetzige Geschichte erzählen in einem düsteren Berlin, das parallel zum Berlin der Touristen und Hipster existiert“, sagt Qurbani bei der Pressekonferenz. „Ich wohne am Park Hasenheide und mir sind die Drogenhändler im Park aufgefallen, und ich wollte deren Geschichte erzählen. Die wird natürlich anders wahrgenommen, wenn ich Franz Biberkopf umwandle in einen dieser Jungs.“ Die Öffentlichkeit hat er nun – und auch Chancen auf einen Berlinale-Bären.

Dabei steigt die Konkurrenz, der Wettbewerb hat angezogen. Nina Hoss und Lars Eidinger zelebrieren ihre Schauspielkunst in „Schwesterlein“. In einem pointierten Beziehungsgeflecht spielt er eine krebskranke Version seiner selbst als Star der Berliner Schaubühne („Hamlet“), sie eine Dramaturgin mit Schreibblockade, die nun mit Macho-Mann und zwei Kindern in der Schweiz lebt. Zu den großen Favoriten dürften die französischen Cine-Anarchisten Gustave Kervern und Benoit Délépine gehören mit ihrer köstlichen Satire „Effacer l’historique“ („Den Verlauf löschen“): Drei Nachbarn in einem Vorort kämpfen da mit Krediten, Warteschleifen, Datenkraken, Seriensucht, Mogelpackungen und Sextapes, sie geraten von einer Katastrophe in die nächste – und immer, wenn sie den Kreisverkehr passieren, singen sie das Gelbwestenlied.

Wieso deutsche Soldaten nicht im Irak waren

Neben Qurbani haben es zwei weitere Ludwigsburger Absolventen zur Berlinale geschafft. Im neuen Wettbewerb Encounters läuft Sandra Wollners Diplomfilm „The Trouble with being born“. Sie zeigt eine nahe Zukunft, in der es Androiden gibt, die sehr menschlich wirken – es aber nicht sind, wie sich bald herausstellt. „Papa“ nennt ein sehr junges Androiden-Mädchen den Päderasten, bei dem sie lebt. Wollner setzt auf Stimmungen und lange Einstellungen, wo die Anlage einen komplexen Plot hergegeben hätte. Johannes Naber hat mit „Zeit der Kannibalen“ (2014) eine böse Satire auf Jobvernichter und Preisdrücker gedreht. In „Curveball“ (Berlinale Special) beschäftigt er sich mit einem realen irakischen Informanten im Deutschland des Jahres 1999, dessen Aussagen über Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins den USA 2003 als Begründung für ihren Irak-Feldzug dienten. Eine köstliche Geheimdienst- und Polit-Farce ist das – die erklärt, wieso Deutschland sich in Wahrheit nicht an diesem Krieg beteiligt hat.

Mit einer Fülle kleiner Dramen hat diese Berlinale angefangen, nun weitet sich der Blick und sie bietet endlich mehr große, gegenwärtige Themen. In vielen Werken spiegelt sich, was zeitgenössischen n Filmemachern wichtig ist – die Regisseurin Maren Ade („Toni Erdmann“) formuliert es so beim Talents-Panel am Dienstag, wo sie über ihre Produktionsfirma Komplizen Film spricht: „Wir diskutieren permanent über Inhalte.“