Dieter Kosslick, der künstlerische Leiter der Berlinale, versteht sein Festival auch als eine politische Veranstaltung. Ihn bewegen Themen wie die Globalisierung, religiös motivierter Terror sowie die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.

Stuttgart - Dieter Kosslick, der künstlerische Leiter der Berlinale, versteht sein Festival auch als eine politische Veranstaltung.

 

Ihn bewegen Themen wie die Globalisierung, religiös motivierter Terror sowie die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.

Herr Kosslick, Sie schreiben in Ihrem Vorwort zum Berlinaleprogramm: Während Sie gerade in den letzten Vorbereitungen für die Berlinale stecken, blickt die Welt mit Schrecken auf den Terror von Paris. Wie macht man ein Festival in einer Zeit, in der es scheint, als fliege uns die Welt um die Ohren?
Die Ereignisse von Paris reflektieren wir natürlich noch nicht. Aber im Prinzip reflektiert das Programm der Berlinale so stark wie selten zuvor diese Themen – Religionswahn, Fremdenhass, Homophobie. Schon seit Jahren versuche ich klarzumachen, dass ich die Aufgabe der Berlinale als politisches Festival vor allem darin sehe, Ereignisse in einem größeren Zusammenhang zu betrachten. Wir erleben gerade verschiedenes in einer furchtbaren Gleichzeitigkeit: die Anschläge in Paris, dass einer fast zu Tode gepeitscht wird von den Saudi-Arabern, oder den Folterbericht der CIA. Da sitzt man an seinem Tisch und fragt sich: Wo sind wir eigentlich?
Und, was antworten Sie sich dann?
Wir befinden uns in der Situation, dass uns die Resultate einer ohne Hemmung und ohne Regulierung ausgebreiteten Globalisierung ereilen. Nach wie vor geht es der Welt nur um Wachstum, auch nach dem Bankencrash. Und wenn das Wachstum nicht funktioniert, dann funktioniert Repression, wie man jetzt am Öl-Preisverfall sieht. Ich verweise nur auf diese neue Statistik, wonach ein Prozent der Weltbevölkerung 99 Prozent des Reichtums besitzt, wo einem Prozent der Reichen soviel gehört wie allen Armen zusammen genommen. Auch in unserem Land geht diese Schere immer weiter auseinander. Das hat Folgen. Die Hälfte der Menschheit migriert aus unterschiedlichen Gründen. Menschen werden ausgebeutet. Es gibt offensichtlich keine gesellschaftliche Reflexion, die die Welt besser machen will. Und da fragt man sich doch, warum man Milliarden aufwendet um die Schäden militärisch zu lindern, die durch ein krankes System entstehen, anstatt das System zu hinterfragen. Dann muss man sich nicht wundern, dass die Exzesse immer brutaler werden.
Ist das eine Erklärung für wachsende Militanz unter religiöser Flagge?
Nein, was ich versuche zu sagen ist: wir sehen unterschiedliche Folgen einer globalen Entwicklung. Eine ist zum Beispiel die Radikalisierung von Teilen des Islam, ein religiös motivierter, gewalttätiger Wahn. Aber es wird uns nicht weiterbringen, immer nur einzelne Folgen herauszuziehen und zu betrachten, wenn wir nicht die komplette Schieflage betrachten und diese zu ändern versuchen.
Was glauben Sie: warum sind radikale religiöse Bewegungen auf einmal so erfolgreich?
Die Gesellschaften zerfallen, Leute werden in Armut gestürzt, sei es durch Bankenkrisen, Umweltkatastrophen, Währungsaufwertungen, durch die Globalisierung. Die Menschen suchen nach einem Halt in einer Gesellschaft, die sie nicht mehr verstehen.
Und wie, bitte, kann man so was im Kino behandeln?
Wir programmieren Filme, die diese Themen behandeln. Zum Beispiel im Wettbewerb einen Film, in dem es um Hunderte von Priestern geht, die Kinder in Chile missbraucht haben, und jetzt in so einer Art Kolonie von Austragshäusern von der katholischen Kirche ver- und entsorgt werden. Ich mache da keinen großen Unterschied – in der Gesellschaft wird Macht benutzt, um auszubeuten, zu foltern, zu missbrauchen. Alles ist außer Rand und Band.
Kunst und Medien als Instrumente der freiheitlichen Auseinandersetzung sind nicht erst mit dem Anschlag von Paris zum Ziel von Terroristen geworden. Wägen Sie inzwischen bei ihrem Programm manchmal ab, ob Sie eine Provokation wirklich zeigen? Haben Sie eine Schere im Kopf?
Nein, ich hab keine Angst. Wir haben im Wettbewerb auch einen Film von Patricio Guzman, der in einem politischen Essay das Thema Folter behandelt. Um den habe ich wirklich gekämpft. Wir zeigen einen dokumentarischen Eisenstein-Film zum Thema Homophobie, der vielen nicht schmecken wird. Die russischen Stimmen haben sich auch schon dazu gemeldet – der Film passe ihnen nicht, haben die mitgeteilt.
Glauben Sie, dass Filme irgendwas ausrichten können?
Ja, das glaube ich. Wir können zum Beispiel ein Programm machen, in dem Filmkünstler zu diesen Themen zu Wort kommen. Wenn ich könnte, würde ich diese 25 000 Leute, die da bei Pegida in Dresden auf die Straße gehen, mal eine Woche gerne zur Berlinale einladen, damit sie sich mal ein paar dieser vierhundert Filme aus über achtzig Ländern anschauen. Dann haben sie vielleicht durch ein anderes Fenster auf die Welt und andere Menschen geschaut. Aber ich will diese Leute auch nicht diskriminieren. Die Leute sind auch verunsichert und haben keinen Rahmen für ihr Leben. Ich habe auch ein Verständnis dafür, dass Menschen Linien suchen, an denen sie sich festhalten, nur sind das halt nicht immer die richtigen. Aber es ist wichtig, den Dialog beizubehalten.
Da Sie diese Menschen nicht einladen können: wen erreicht denn ein Filmfestival außerhalb der Blase der Kritiker und kunstaffinen Menschen, in der wir uns auch hier gerade befinden?
Ich denke, man darf nicht unterschätzen, was uns möglich ist. Zwei Beispiele aus meiner Amtszeit kann ich nennen. Es gab in Cannes den Film „Hors la loi“ von Rachid Bouchareb über Algerien-Veteranen, in dessen Folge die armen algerischen Frontkämpfer, die für die französische Armee geopfert worden sind, nachdem der Film im Kino Furore machte und das Cannes-Festival gewann, jetzt eine Rente bekommen. Und bei uns hat der Goldener-Bär-Gewinnerfilm „Esras Geheimnis“ von Jasmila Zbanic dazu geführt, dass die vergewaltigten Frauen des Bosnien-Krieges als Kriegsopfer anerkannt wurden. Und was die Berlinale und ihre Wirkung nach außen angeht, so hat sie ja wirklich etwas sehr Gutes: Wir verkaufen 325 000 ganz normale Kinokarten an ganz normale Menschen. Das würde ich nicht mehr als Blase sehen.