Eine kluge Jury unter Juliette Binoche hat nach einem schwachen Wettbewerb starke Zeichen gesetzt zu Gleichberechtigung, katholischem Kindesmissbrauch und chinesischer Zensur.

Berlin - Künstlerische Wettbewerbe sind für die Juroren immer eine Gratwanderung. Scheinbar objektive Beurteilungskriterien relativieren sich in der menschlichen Praxis durch ein sehr subjektives ästhetisches und emotionales Empfinden. Ein Ausweg besteht darin, das Augenmerk auf die Botschaft jenseits der künstlerischen Qualität zu richten – besonders dann, wenn ein Wettbewerb so schwach ist wie die diesjährige Berlinale. Der internationalen Jury unter Leitung der französischen Schauspielerin Juliette Binoche ist es mit klugen Entscheidungen gelungen, symbolische Zeichen zu setzten zu brennenden Fragen unserer Zeit.

 

Eines richtet sich an die Volksrepublik China. Die Darsteller Yong Mei und Wang Jingchun spielen in dem gesellschaftskritischen Drama „So long, my son“ Eheleute, deren Sohn tödlich verunglückt, zudem hat das Ehepaar bereits wegen der Ein-Kind-Politik ein Kind durch Zwangsabtreibung verloren. Sie bleiben ein Paar, kommen über die Trauer und die Wut aber nicht hinweg und brechen mit engen Freunden, die Mitverantwortung tragen. Beide Schauspieler bekommen Silberne Bären für ihre Leistung, und ihr überraschtes Strahlen ist das hellste am Samstagabend bei der Preis-Gala im Berlinale-Palast. „Wir haben dieses Kunstwerk unter schwierigen Bedingungen gedreht“, sagt Wang Jingchun und Yong Mei: „Wir sind froh, dass wir den Film fertigstellen konnten.“

Zuvor war ein anderer Film aus China aus dem Wettbewerb abgezogen worden: „One Second“ des Altmeisters Zhang Yimou, der in Berlin 1988 den Goldenen Bären gewann mit „Rotes Kornfeld“. Als Grund wurden „technische Probleme“ bei der Postproduktion genannt, China-Kenner halten es aber nicht für ausgeschlossen, dass der zuletzt eher linientreue Regisseur der Zensur zum Opfer fiel. Binoche nahm darauf gleich zu Beginn der Gala direkt Bezug: „Kunst im Film kann die Transformation unseres Lebens und unseres Geistes bewirken“, sagte sie. „Wir hoffen, dass wir diesen Film bald überall auf der Welt sehen können. Und wir haben ihn hier auf der Berlinale sehr vermisst.“

Das zweite Zeichen sind die Bären für Frauen mit mutigen Ansätzen und eigenen Handschriften. Sieben Regisseurinnen waren diesmal in einem Wettbewerb mit 16 Filmen, so viele wie noch nie. Die Berlinale unter Dieter Kosslick nimmt schon lange ernst, was die weibliche Film-Initiative Pro Quote seit 2014 vehement einfordert: Gleichberechtigung in der einstigen Männerdomäne Film.

Mehr Frauen denn je

Nora Fingscheidt erzählt in ihrem Langfilmdebüt „Systemsprenger“ die Geschichte einer Neunjährigen, die viele Pädagogen beschäftigt und überfordert: Sie rastet regelmäßig aus, knallt Köpfe von Mitschülerinnen auf Tischplatten, wirft mit Bobbycars und büxt bei jeder Gelegenheit aus. Fingscheidt erzählt, sie sei vor zwölf Jahren Praktikantin bei der Berlinale gewesen und habe „davon geträumt, dass da irgendwann unser Plakat hängt. Ich danke allen, die uns Energie gegeben haben das zu machen obwohl viele gesagt haben: Das will keiner sehen, das ist ein zu schwieriges Thema“. Vorher schon hatte sie zu Protokoll gegeben, dass das Drehbuch während ihres Studiums an der Ludwigsburger Filmakademie entstanden sei, „im geschützten Rahmen mit toller dramaturgischer Begleitung und viel Zeit für intensive Recherche.“ Fingscheidts Silberner Bär ist also auch einer für Baden-Württemberg.

Als Zumutung dürften viele Angela Schanelecs kryptisches Werk „Ich war zuhause, aber“ empfinden. Sie erzählt keine Geschichte, sondern assoziative, absurde Episoden aus dem Alltag einer überforderten Mutter, deren Realität sich in eingestreuten Shakespeare-Zitaten spiegelt. Fürs breite Publikum ist das nichts, die künstlerische Handschrift rechtfertigt den Regie-Bären trotzdem.

Eindeutig politisch gemeint ist François Ozons Jury-Bär für „Grâce à dieu“ („Gelobt sei Gott“). Er zeigt Missbrauchsopfer katholischer Würdenträger, die Jahrzehnte später Wiedergutmachung fordern, und er zeigt eine Kirche, die wie meistens nur an sich selbst denkt, zunächst nichts unternimmt und offen begrüßt, dass viele Fälle verjährt sind. Das starke politische Statement ist die große Qualität dieses etwas sentimentalen Werks.

Wie Not und Perspektivlosigkeit im maroden Süditalien nun schon 15- und 16-Jährige in die organisierte Kriminalität treiben, beschreibt der „Gomorrha“-Autor Roberto Saviano in „Der Clan der Kinder“. Das nun Bären-prämierte Drehbuch für die Filmadaption hat er mit seinem Kollegen Maurizio Braucci und dem Regisseur Claudio Giovannesi geschrieben, und die jugendliche Wildheit und Naivität ist auch in den Bildern mit Händen zu greifen. „Drehbuchschreiben heißt, Widerstand zu leisten“, sagt Saviano in Anspielung auf die populistische Regierung Italiens, „denn in unserem Land ist es schwierig geworden, die Wahrheit zu sagen.“

Und der Goldene Bär? Er dient vor allem dazu, die Chancen kleiner Filme zu steigern auf der Suche nach Leinwänden und Zuschauern. Der israelische Filmemacher Nadav Lapid erzählt in „Synonymes“ von einem Mann, der sich radikal selbst entwurzelt, um sich selbst neu zu erfinden. Yoav (Tom Mercier) möchte mit seiner israelischen Herkunft vollständig brechen und Franzose werden, doch er bleibt in Paris ein Irrlicht, das eine entfesselte Kamera durch Verwerfungen und Katastrophen begleitet. Zuzügler und Wahlheimat bleiben einander fremd, weil Selbstverleugnung ihre Grenzen hat und niemand ganz aus seiner Haut kann.

Zumindest ein wenig verblasst ist nach dieser Gala der schale Beigeschmack, den das sehr mäßige Wettbewerbsprogramm hinterlassen hatte. Das hilft auch dem scheidenden Festival-Leiter Dieter Kosslick, dem Juliette Binoche am Ende attestiert, er sei „der beste Regisseur der Berlinale“. Dann bekommt auch Kosslick einen Bären, einen Riesenteddy, mit dem er über die Bühne hampelt, die er nun nach 18 Jahren verlässt – gerade noch rechtzeitig.