Aus deutscher Sicht ist die Entscheidung der Berlinale-Jury eine Enttäuschung, denn alle Favoriten blieben ohne Preise. Mit dem Goldenen Bären für einen radikalen Experimentalfilm positioniert sich Berlin provokant in der Festivallandschaft.

Berlin - „Fifty-Fifty“, antwortete Jury-Präsident Tom Tykwer mit einem etwas angestrengten Lächeln, als Moderatorin Anke Engelke ihn vor der Vergabe der Hauptpreise fragte, ob das Publikum denn von den Entscheidungen seines Gremiums überrascht sein werde. Das war eine freche Untertreibung. Denn die Grand Jury der diesjährigen Berlinale hat es bei der Bärenvergabe geschafft, jegliche Prognosen lässig in die Tonne zu klopfen.

 

Alle waren sich sicher, dass in diesem Wettbewerb das deutsche Kino mit mindestens einem Bären nach Hause gehen würde. Aber sowohl Christian Petzolds „Transit“ als auch Emily Atefs Romy-Schneider-Film „3 Tage in Quiberon“ und Thomas Stubers „In den Gängen“ gingen leer aus. Auch Marie Bäumer sowie Franz Rogowski, die bei den Darstellerpreisen als Favoriten galten, konnten die internationale Jury nicht überzeugen. Das ist aus deutscher Sicht zunächst einmal eine riesengroße Enttäuschung, denn einen solch starken Auftritt des heimischen Kinos hat es bei der Berlinale seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr gegeben. Aber Jammern hilft bekanntlich nichts, die genannten Filme werden zumindest in den deutschen Kinos auch ohne Bären-Unterstützung ihr Publikum finden.

Pornografie oder Experiment?

Mit dem Goldenen Bären für den rumänischen Beitrag „Touch Me Not“ von Adina Pintilie hat die Jury ein unmissverständliches Statement gesetzt, das darauf verweist, dass Kino nicht nur Unterhaltungsinstrument, sondern auch Erlebnisraum ist, in dem Grenzen immer wieder neu bestimmt werden können. Pintilies halbdokumentarisches Filmexperiment beginnt mit einer Kamerafahrt, die in extremer Nahaufnahme von der Wade beginnend an einem behaarten Männerbein entlang gleitet und sich gemächlich über den entspannten Penis bis zum Oberkörper hin vorarbeitet. Damit ist nach 15 Filmsekunden das Thema derart klar bestimmt, dass der Film nie im Leben einen US-Verleih finden wird.

Im Zentrum von „Touch me not“ steht eine Frau um die fünfzig, die jegliche körperliche Berührung ablehnt und sich ihrer Angst mit einigen therapeutischen Selbstexperimenten stellt: Sie schaut einem Callboy beim Duschen und Onanieren zu, engagiert eine transsexuelle Prostituierte, die sich als einfühlsame Gesprächspartnerin erweist, sowie einen BDSM-Spezialisten, der mit ihr an der Überwindung ihrer Berührungsängste arbeitet. Weiterhin führt der Film in ein Therapieseminar, in dem behinderte und nichtbehinderte Menschen gegenseitige körperliche Barrieren erkunden, sowie in einen Swinger-Club, wo die sexuelle Entgrenzung zum orgiastischen Programm gehört. Von vielen Kritikern vorschnell als pornografisch denunziert oder als „Sexfilm“ gehypt, führt Pentilies Erzählprinzip sensibler und radikaler Nähe das Publikum an seine Grenzen.

Sieger ohne provokante Attitüde

Aber auch wenn das Konzept unbedingter Distanzlosigkeit nicht wirklich aufgeht, ist „Touch me not“ ein Film, der ohne provokante Attitüde viele verschiedene und sehr kontroverse Reaktionen hervorruft. Mit dem Goldenen Bären für einen solchen Film positioniert sich die Berlinale auf ihre sehr eigene Weise in der Festivallandschaft: In Cannes werden Meisterwerke wie „The Square“ ausgezeichnet, in Venedig publikumsfreundliches Arthouse wie „The Shape of Water“ – und in Berlin mit „Touch me not“ ein radikales Experiment.

Dagegen fällt der Silberne Bär (Großer Preis der Jury) für den polnischen Beitrag „Twarz“ ins klassische Berliner Beuteschema. Mit ihrer metaphorischen Geschichte eines jungen Mannes, der nach einem Arbeitsunfall mit einem neuen, entstellten Gesicht in sein Dorf zurückkehrt, verweist Regisseurin Małgorzata Szumowska satirisch auf die Unfähigkeit von polnischer Gesellschaft und katholischer Kirche mit Andersartigkeit umzugehen.

Ein sehr viel stilleres Wagnis ging der paraguayische Beitrag „Las herederas“ (Die Erbinnen) von Marcelo Martinessi ein, weil er mit angenehmer und absolut überzeugender Selbstverständlichkeit von einem lesbischen Paar erzählt, das im fortgeschrittenen Alter die langjährige Liebe hinterfragt. Neben dem Silbernen Bären (Alfred-Bauer-Preis) für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet, bekam auch Hauptdarstellerin Ana Brun vollkommen zurecht einen Silberbären für ihre sensible Darstellung einer kriselnden älteren Dame, die sich neu in ihrem Leben zurecht finden muss.

Die beiden wichtigsten Bären gehen an Frauen

Sieht man einmal von dem Regiepreis für Wes Andersons „Isle of Dogs“ und der Drehbuchauszeichnung für den mexikanischen Kunstraub-Drama „Museo“ von Alonso Ruizpalacios ab, hat sich die Jury mit der Preisvergabe auch im beginnenden Metoo-Zeitalter positioniert. Die beiden wichtigsten Bären gingen an Regisseurinnen und sieben der zwölf Hauptpreise an weibliche Filmschaffende. Dabei propagieren die ausgezeichneten Filme nicht das plumpe Starke-Frauen-Klischee, wie es etwa der schwedische Beitrag „Real Estate“ mit seiner wild herumballernden Heldin zur Schau stellte. Vielmehr geht es um einen neuen, anderen Blick auf die Welt und die Figuren, der den männlich geprägten Sehgewohnheiten etwas entgegensetzt.

Von einer solchen Diversifizierung kann das Kino nur profitieren, auch wenn der Weg über sperrige Experimente führt. Dieser Berlinale-Jahrgang, der was die Güte der Beiträge angeht erneut sehr durchwachsen war und kein wirkliches Meisterwerk zu bieten hatte, bildete aber zumindest den Willen ab, sich der Vielfalt filmischer Ausdrucksweisen zu stellen. Aber dieser etwas angestrengte Pluralismus ist gleichzeitig auch das Problem des Wettbewerbs, der ein breites Spektrum bedienen will, aber zu wenig Wert auf die filmische Qualität der Einzelbeiträge legt. Im Zeitalter der medialen Übersättigung ist das natürlich ein grundsätzliches Dilemma, aus dem die Berlinale jedoch in Zukunft - mit und ohne Kosslick - einen eigenen Ausweg finden muss.

Die Bären-Gewinner im Überblick

Die Preisträger der Internationalen Jury:

GOLDENER BÄR: „Touch Me Not“ von Adina Pintilie (Rumänien)

SILBERNER BÄR, GROSSER PREIS DER JURY: „Gesicht“ („Twarz“) von Malgorzata Szumowska (Polen)

SILBERNER BÄR, ALFRED-BAUER-PREIS für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet: „Die Erbinnen“ („Las herederas“) von Marcelo Martinessi (Paraguay)

SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE REGIE: „Isle of Dogs“ („Isle of Dogs - Ataris Reise“) von Wes Anderson (USA), Animationsfilm

SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE DARSTELLERIN: Ana Brun in „Die Erbinnen“ („Las herederas“) von Marcelo Martinessi (Paraguay)

SILBERNER BÄR FÜR DEN BESTEN DARSTELLER: Anthony Bajon in „Das Gebet“ („La prière“) von Cédric Kahn (Frankreich)

SILBERNER BÄR FÜR DAS BESTE DREHBUCH: Manuel Alcalá und Alonso Ruizpalacios (Mexiko) für „Museo“ (Museum)

SILBERNER BÄR FÜR HERAUSRAGENDE KÜNSTLERISCHE LEISTUNG: Elena Okopnaya für Kostüm und Design in „Dovlatov“ von Alexey German Jr. (Russland)

Weitere Festivalpreise:

GOLDENER BÄR FÜR DEN BESTEN KURZFILM: „The Men Behind The Wall“ von Ines Moldavsky

SILBERNER BÄR FÜR DEN BESTEN KURZFILM: „Imfura“ von Samuel Ishimwe

AUDI SHORT FILM AWARD: „Solar Walk“ von Réka Bucsi

GLÄSERNER BÄR FÜR DEN BESTEN FILM GENERATION KPLUS: „Les rois mongols“ („Hand auf’s Herz“) von Luc Picard

GLÄSERNER BÄR FÜR DEN BESTEN FILM GENERATION 14PLUS: „Fortuna“ von Germinal Roaux

BESTER ERSTLINGSFILM DER GESELLSCHAFT ZUR WAHRNEHMUNG VON FILM- UND FERNSEHRECHTEN (GWFF): „Touch Me Not“ von Adina Pintilie

GLASHÜTTE ORIGINAL DOKUMENTARFILMPREIS: „Waldheims Walzer“ von Ruth Beckermann (Österreich)