Morgen wird in Berlin die Berlinale eröffnet. Was hat das Filmfestival mit dem normalen Kinoleben zu tun? Wenig, schreibt StZ-Kulturchef Tim Schleider. Schließlich ist selbst bei den Filmen des Wettbewerbs keineswegs sicher, dass sie ihren Weg ins Kino finden.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Berlin - Elf Tage Berlinale stehen bevor. „Internationale Filmfestspiele“, das klingt immer gut. Gemeinsam mit den Festivals in Cannes und Venedig beansprucht Berlin, zu dieser Zeit das Zentrum der internationalen Filmszene zu sein, in seinen Kinos die wichtigsten neuen Werke, die interessantesten Newcomer, die kühnsten künstlerischen Trends und die spannendsten Geschichten und Thesen zu bieten. Hehre Behauptungen, da wird man wohl mal fragen müssen: Welche davon werden auch wirklich eingelöst? Und wer genau hat etwas davon? Wem nützt die Berlinale? Wem nützt es zu verfolgen, was auf der Berlinale geschieht?

 

Am meisten profitieren von der Berlinale zweifellos die Berliner. Zu einer Jahreszeit, da sich die Stadt rein witterungs- und helligkeitsbedingt fast durchweg völlig verratzt und zugenäht präsentiert, zaubert die Berlinale mitten in ihr Zentrum einen ungeheuren Vitalitätsstoß, ungefähr so wirkungsvoll wie die Adrenalinspritze, die der Drogenhändler Lance mitten ins Herz der kollabierten Mia jagt in Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“. Rund um den Berlinale-Kinopalast am Potsdamer Platz entsteht im urbanen Depri-Grau eine golden leuchtende Zauberstadt aus roten Teppichen und großen Bildschirmen, auf denen pausenlos irgendwelche Liveübertragungen zu sehen sind. Umgehend füllt sich das Areal mit schickem Publikum und wichtig wirkenden Gestalten aus aller Welt. Ständig hat man das Gefühl, einfach so auf der Straße wichtigen Menschen zu begegnen. Und manchmal bekommt man gar das Gefühl, selbst ein bisschen wichtig zu sein.

Das Festival der Filmfans

Derweil steht das Volk ohne Einlasssticker an Dutzenden von Kinokassen Schlange, um neue, frische Filmkost aus allen Gegenden der Welt sehen zu können. Viel stärker als Cannes und Venedig ist die Berlinale das Festival der Filmfans. Mitten im Februar kommen Kinofreunde nach Berlin, um hier drei, vier oder sogar fünf Filme pro Tag zu schauen und so künstlerische Eindrücke für den ganzen Rest des Jahres zu bunkern. Und glaube niemand, dabei gehe es nur um große Namen und Spektakel. Gerade das scheinbar Sperrige und Unbequeme aus fernsten Gegenden der Welt kann hier plötzlich große Form entwickeln. Regisseure vietnamesischer Coming-out-Filme werden in Spätvorstellungen auf dem Kiez minutenlang bejubelt. Autoren, die in ihren Heimatländern unter Zensur und Verfolgung leiden, werden auf der Berlinale zum geschätzten Gesprächsgast in Radiointerviews, bekommen jene Öffentlichkeit, die ihnen den Rücken stärkt für die Rückkehr in die Heimat.

Was von all dieser Festivalvielfalt später in die Kinos von Hannover, Köln, Frankfurt oder Stuttgart kommt? Kaum etwas. Unter beständig wachsendem ökonomischem Druck können es sich immer weniger Lichtspielhäuser leisten, unbekannte Filme von unbekannten Regisseuren zu zeigen, die noch dazu von Kleinstverleihen ohne Werbebudget angeboten werden. Kaum besser ist auch die Lage für jene Filme, die von den Fernsehanstalten ZDF oder Arte koproduziert werden. Die TV-Spitzen präsentieren sich auf der Berlinale auf den Empfängen und Finger-Food-Feten zwar ausgiebig und stolz wie Oscar, aber ihre mitfinanzierten Filme werden dann später doch wieder nur lieblos in Spät- oder Nachtvorstellungen abgestellt. Ein scheinbar ewiges öffentlich-rechtliches Trauerspiel, gut umwölkt mit hehren Worten.

Nicht so bedeutungslos, wie die Kritiker behaupten

Selbst bei den Filmen des Wettbewerbs, der vornehmsten Programmreihe, kann man keineswegs sicher sein, dass sie ihren Weg ins Kino finden. Immerhin: so völlig bedeutungslos, wie manche Kritiker überspitzt behaupten, ist die alljährliche Auswahl des Berlinale-Chefs Dieter Kosslick dann doch nicht: Gleich zwei der fünf Werke, die in diesem Jahr zum Oscar für den besten fremdsprachigen Film nominiert sind, waren genau vor einem Jahr im Wettbewerb der Berlinale zu sehen – der kanadische Bürgerkriegsfilm „War Witch“ und der Kostümfilm „Eine königliche Affäre“ aus Dänemark; beide wurden mit Silbernen Bären geadelt. Und der Oscar-Gewinner von 2012, das iranische Gesellschaftsdrama „Nader und Simin“, begann seine internationale Erfolgslaufbahn im Februar 2011 just mit dem Goldenen Bären der Berlinale.

Aber am einfluss- und folgenreichsten für den späteren Kinoalltag ist die Berlinale gerade dort, wo sie am unscheinbarsten wirkt, weil die Türen nach außen weitgehend verschlossen bleiben. Beim Talente- Campus beispielsweise, auf dem der Nachwuchs in Workshops von den Regiegrößen dieser Welt lernen kann. In der Festivalreihe Perspektive Deutsches Kino, in der sich eine neue Filmgeneration dem Fachpublikum präsentieren kann. Und vor allem natürlich beim Film-Market, auf dem Produzenten, Verleiher und Rechtehändler aus aller Welt höchst verschwiegen, aber effektiv über künftige Projekte und Programme feilschen und entscheiden.

Perfekt geschminkte Stars aus aller Welt

Und dann wäre da noch ein Berlinale-Ertrag, den insbesondere die Unterhaltungspresse dieser Welt sehr zu schätzen weiß: elf Tage lang rote Teppiche. Gut gekleidete, perfekt geschminkte Stars aus aller Welt, die willig Autograme verteilen und trotz der Kälte vor den Fotografen posieren. Hier ist viel zu knipsen und zu drehen, Material für viele bunte Seiten, gerade richtig vom Timing her, bevor am 24. Februar das große „Oscar“-Shooting in L. A. steigt.

Man sollte die Bedeutung dieser Bilder für die Attraktivität der Kunstgattung Film nicht gering schätzen. Das Kino braucht solche Bilder, braucht neben der stillen Konzentration auf Kunst auch Aufregung und Quirligkeit, braucht Geschichten, die weitererzählt im kollektiven Gedächtnis der Fangemeinde abgespeichert werden. Die Berlinale liefert solche Geschichten. So wie jene Momente der Rückversicherung, in denen die Großen der Zunft geehrt werden: Mit dem Ehrenbär wird in diesem Jahr der Dokumentarfilmer Claude Lanzmann bedacht, mit den Berlinale-Kameras Isabella Rossellini und Rosa von Praunheim. Wo sollte solchen Künstlern der angemessene Tribut gezollt werden, wenn nicht auf einem Festival? Genau für solche Abende ist die Berlinale wie gemacht.