Das Filmfestival kommt auf Touren: Josef Hader karikiert die Abstiegsangst der Mittelschicht, ein Kammerspiel blickt auf die Situation der Zivilisten im Syrien-Krieg, starke Frauenfiguren streiten für ihr Recht – und Geoffrey Rush brilliert als Lüstling.

Berlin - Im Bühnenstück „Hader muss weg“ spielt der österreichische Kabarettist Josef Hader alle Rollen selbst, manchmal drei gleichzeitig, bruchlos Haltung, Mimik und Stimmlage wechselnd. Diese Regiebegabung überträgt der erfolgreiche Schauspieler (Indien“, „Der Knochenmann“) und Autor nun auf die Leinwand: Am Samstag feierte sein selbst verfasstes Spielfilmdebüt „Wilde Maus“ im Berlinale-Wettbewerb seine Weltpremiere.

 

Abstiegsängste der Mittelschicht verkörpert Hader da als renommierter Musikkritiker Georg, den die Zeitung nach 25 Jahren entlässt. Er sei „zu teuer“, sagt der Chefredakteur (Jörg Hartmann), der gleich die junge Billiglohn-Kollegin (Nora von Waldstätten) ins Konzert schickt, obwohl die von Klassik keine Ahnung hat. Seiner sensiblen Frau (Pia Hierzegger), einer Psychologin mit starkem spätem Kinderwunsch, verheimlicht Georg den Rauswurf – er geht weiter jeden Tag aus dem Haus und schlägt im Wiener Prater die Zeit tot, wo er einen einfach gestrickten Schulkameraden (Georg Friedrich) wiedertrifft, der ihn damals oft verdroschen hat. Bald nimmt ein munteres Chaos seinen Lauf, bis Hader schließlich nackt, blutend und mit zerbrochener Brille im Schnee sitzt.

Drehbuch, Regie, Schauspieler – alles kommt hier auf den Punkt, und das hat seinen Grund: „Josef hat alle eingeladen, sich einzubringen“, sagt Hartmann bei der Pressekonferenz, und Friedrich: „Er hat Szenen favorisiert, in denen Unvorhergesehenes passiert ist, das hat uns Mut gemacht, spontan zu sein.“ Man habe jede Szene vorab gemeinsam geprobt und bearbeitet, sagt Hierzegger, „da war man beim Dreh frei im Hirn“.

„Insyriated“: Ein Film für alle Fluchtgrund-Leugner

Eine echte Ensembleleistung also, in der Hader treffsicher, aber etwas weniger böse als auf der Bühne die Widersprüche saturierter Bürgerlichkeit aufs Korn nimmt. „Ich lebe ja selbst in diesem Milieu, das genau weiß, welcher Fisch politisch korrekt ist, aber ein wenig hilflos auf die Nachrichten aus Syrien reagiert und abstumpft, weil man eh nichts ändern kann“, sagt Hader.

Wer mehr darüber wissen will, wie es in Syrien zugeht, muss bei dieser Berlinale in die Programmreihe Panorama ausweichen. Dort lief am Samstag das Kammerspiel „Insyriated“. Eine Mittelschicht-Mutter hat sich mit Großfamilie und Nachbarn in ihrer Wohnung verrammelt. Bomben detonieren, draußen lauert ein Scharfschütze, marodierende Kerle gehen um, plündern und vergewaltigen Frauen. Inspiriert von einer realen Erzählung aus Aleppo studiert der belgische Filmemacher Philippe van Leeuw die Psychologie der zivilen Opfer, die im Krieg immer am meisten verlieren. Alle Fluchtgrund-Leugner sollten diesen Film sehen, der wohl bald auch auf Theaterbühnen ankommen dürfte. Hiam Abbas („Die syrische Braut“) spielt die starke Mutter, die versucht, die Kontrolle zu behalten und trotz allem nicht zusammenzubrechen.

Überhaupt stehen Frauen und ihre Schicksale auch bei dieser Berlinale wieder im Fokus. „Felicité“, ein rarer afrikanischer Wettbewerbsbeitrag, dreht sich um eine eigenwillige Sängerin, der der Regisseur Alain Gomis mit der Kamera zuleibe rückt, als wollte er in sie hineinschauen – wenn er nicht gerade improvisiert wirkende Videobilder aus der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa zeigt. Felicités Sohn verliert bei einem Unfall ein Bein, weil sie das Geld für die Operation nicht schnell genug auftreibt. Um rein existenzielle Fragen geht es da, Selbstjustiz in einem korrupten Land, Trunksucht, fehlende männliche Rollenvorbilder. Archaisch und weit entfernt wirkt das, gerade neben Filmen wie „Wilde Maus“, die praktisch eine einzige Metaebene sind – und genau solche Kontraste machen ja den Reiz von Festivals aus.

Auch Baden-Württemberg hat bei dieser Berlinale Heldinnen

Der Chilene Sebastián Lelio hat Berlin 2012 mit dem Frauenportrait „Gloria“ verzückt, nun widmet er sich in „Una mujer fantastica“ dem Transgender-Wesen Marina, dessen älterer Geliebter Orlando überraschend stirbt. Bald ist sie Anfeindungen von allen Seiten ausgesetzt, besonders aus Orlandos Familie. Die reale Transgender-Frau Daniela Vega gibt sich trotzig in der Hauptrolle, und Lelio setzt exzessiv Wind und Spiegel ein, um seine Botschaft vom Recht auf sexuelle Selbstbestimmung mit dicken Ausrufezeichen zu versehen.

Auch Baden-Württemberg hat bei dieser Berlinale Heldinnen. Mia Spengler, Absolventin der Ludwigsburger Filmakademie, durfte mit ihrem komödiantischen Familiendrama „Back for Good“ am Freitag die Berlinale-Nachwuchs-Schiene „Perspektive deutsches Kino“ eröffnen. Sie erzählt die Geschichte von Angela (Kim Riedle), die nach einer Entziehungskur die Welt der D-Promis vorübergehend verlässt und wieder zu Hause in der Provinz unterschlüpft bei ihrer abgearbeiteten Mutter (Juliane Köhler) und ihrer epilepsiekranken Schwester, die immer einen Helm tragen muss und deswegen gemobbt wird. Während Angela ins „Dschungelcamp“ oder den „Promi Zoo“ zu kommen versucht, wird immer klarer, wo ihr Platz eigentlich sein sollte.

Dieses klassische Szenario setzt Spengler mit Witz in Szene – und mit einer Kim Riedle, die sich bravourös dem überschminkten, leichtgeschürzten Animier-Look hingibt. Wie auf Knopfdruck knipst sie ein Magazin-Cover-Lächeln an und führt überraschend glaubhaft vor, dass eine Frau dem Partyrausch des schönen Scheins anhängen und trotzdem ein vielschichtiger Charakter mit Köpfchen sein kann.

Geoffrey Rush zuzuschauen, ist ein Genuss

Den herausragenden Auftritt dieses ersten Berlinale-Wochenendes hatte trotzdem ein Mann. Es ist ein Genuss, dem Australier Geoffrey Rush („The King’s Speech“) dabei zuzuschauen, wie er den gealterten Künstler, Kauz und Lüstling Alberto Giacomett mit jedem Satz zum Schillern bringt. Der US-Schauspieler Stanley Tucci („Spotlight“) konzentriert sich in seiner jüngsten Regiearbeit „The Final Portrait“ auf 18 Tage im Paris des Jahres 1964, in denen der selbstzweiflerische Giacometti ein Porträt einfach nicht zu Ende bringt. Da das keine abendfüllende dramaturgische Handlung ist, bleibt der Film etwas dünn, weshalb er außer Konkurrenz gut aufgehoben ist.

Rush ist nicht nach Berlin gekommen, beherrscht aber trotzdem die Pressekonferenz. Er habe dem sich gern verselbständigenden Schauspieler alle Freiheiten gewährt, bekennt Tucci: „Er hatte einen Heidenspaß und konnte viel Humor einbringen. Ihn auf etwas festlegen zu wollen wäre lächerlich, eine Zeitverschwendung.“