In Paris gibt es die Haute Couture, Dior und Armani, in Berlin gibt es Echtes und Schrilles. Die deutsche Hauptstadt kommt ohne die wirklich Wichtigen des Modezirkus aus, denn sie lebt von ihrem Ruf, aufregend zu sein.
Berlin - Wer die Eigenart der Berliner Fashion Week verstehen will, der muss nicht unbedingt einen Platz am Catwalk ergattern. Es reicht schon, dieser Tage ein bisschen unter der Siegessäule herumzustreunen oder mit dem 100er-Bus durch die Stadt zu fahren, der hier hält und immer wieder neue, überraschende Figuren ausspuckt. Direkt unter der Gold-Else steht das schneeweiße Zelt, in dessen schwarzem Bauch etwa 50 Designer ihre Kollektionen präsentieren. Aber der Modezirkus gibt seine Vorstellung auch auf den Straßen davor. Schon am frühen Morgen ziehen hier junge Frauen ihre Bahn – und gemeint sind nicht die leichten Mädchen von der Straße des 17. Juni, sondern junge Frauen, die in Shorts, quadratischen Strickoberteilen, in Boho-Röcken, Neonröhren und Schwindel erregend hohen Wedges ihren ganz eigenen Streetstyle zeigen, immer in der Hoffnung, bemerkt, fotografiert, befragt, entdeckt zu werden.
Fragt man, was sie herführt, dann antwortet eigentlich jede, dass sie „irgendwas mit Mode“ mache – oder machen will: „Ich habe grade ein Blog angefangen“, sagt Annika, 17, die erkennbar stolz ist auf ihr Outfit: ein abgeschilfertes, einst blaues Herrenhemd vom Flohmarkt, breit gegürtet, weit geöffnet, im Ausschnitt eine Messingkette mit langen, ringförmig angeordneten Stacheln, die wie Finger auf den flattrigen nudefarbenen Rock zeigen. Dazu trägt sie ihre alten Chucks. „Alles andere wär billig“, sagt sie.
Berlin will gar keine Konkurrenz zu Paris sein
Das Zelt ist nur ein Teil der Berliner Modewoche, es ist der Kern der sogenannten Mercedes-Benz Fashion Week (ein Name wie ein Fußballstadion), die jahrein, jahraus durch die großen Städte der Welt wandert. Sie kommt auch in solche, die in Sachen Mode zumindest traditionell die Nase nicht vorne haben, so wie Berlin eben. Unter diesem Dach entsteht die für jede Stadt andere typische Mischung: Etablierte deutsche Marken wie Escada Sport oder Boss präsentieren ihre Kollektionen und wechseln sich ab mit jungen, oft Berliner Designern wie Kilian Kerner oder Augustin Teboul. Dazu kommen die Debütanten der Saison, diesmal zum Beispiel das Label Barre Noir von Timm Süssbrich, das mit heftigen Farbkombinationen auffiel.
Was sagt es über die Bedeutung von Berlin, dass zeitgleich in Paris die ganz hohe, handgearbeitete Schule der Mode gezeigt wird? Dort drängten sich Anfang der Woche die wirklich Wichtigen des Geschäfts – und Gäste wie Charlène von Monaco – bei Dior in der ersten Reihe, um die lang erwartete erste Haute-Couture-Kollektion des Belgiers Raf Simons zu bewerten. Sie sahen ein Meer von einer Million echter Blüten, in dem fragile Models wie schwebend die prinzessinnenhaften Roben in starken Farben mit der klassischen Blütenkelchlinie präsentierten. Am nächsten Tag zeigte Armani seine Kollektion.
Es geht um das Berliner Abenteuerspielplatz-Feeling
Dagegen an der Spree: Make-up im Stil eines mexikanischen Totenfestes, eine Schau kaum bekleideter Models in einem U-Bahnhof und die Fußballergattin Sylvie van der Vaart in Unterwäsche. Auch Schrilles gehört zur Berliner Modewoche, genau wie B-Prominenz und deutsche Casting-Fräuleinwunder. Macht nichts, im Gegenteil, es glaubt ja niemand, dass es um eine Konkurrenz mit Paris oder London gehe.
Den späten Zugang, den Berlin zur derzeitigen Welt der Mode gefunden hat, versteht man ein paar Kilometer von der Siegessäule entfernt, am Platz der Luftbrücke vor dem stillgelegten Flughafen Tempelhof. In Flipflops, Sneakers und Jeans strömen hier jeden Modewochentag Zehntausende zur Messe Bread & Butter. Bei der Streetwear-Schau im alten Terminal und auf dem Rollfeld geht es um Jeans und Shirts und hippen Alltagsstyle. Sie ist der Motor der Berliner Modewoche. Als sie vor Jahren an die Spree zog, weil ihre Macher das Berliner Abenteuerspielplatz-Feeling, das heute so viele Kreative anzieht, schon damals spürten, war das der Startschuss für die heutige Entwicklung. Die berühmte Modekritikerin Suzy Menkes hat das größte Kapital der Stadt mit den Worten „rohe Energie“ beschrieben. Längst professionalisiert sich das Geschäft. Neben den Straßen-Fashionistas sieht man auch Damen mit roten Lackhandtäschchen von Chanel. Aber noch lebt Berlin von seinem Ruf, „aufregend und herausfordernd“ zu sein, wie zum Beispiel der junge Designer Steven Tai meint, der in diesem Jahr hier debütiert.