Die Wahl im Norden liefert den Strategen in Berlin den Beleg dafür, dass bei Wahlen im Bund künftig nichts mehr gewiss und planbar ist.

Berlin - Aus Kiel weht den etablierten Parteien in Berlin an diesem Abend ein kühles Lüftchen entgegen. Die Wähler signalisieren abermals, dass es in Deutschland wegen des Triumphs der Piratenpartei künftig kompliziert bleibt, stabile Regierungen zu bilden. Da mag SPD-Chef Sigmar Gabriel noch so trotzig in die Aula des Willy-Brandt-Hauses rufen, dass Rote und Grüne gewonnen und CDU und FDP „Schwächen in Mathematik“ hätten, weil sie sich trotz ihrer Verluste als Sieger gebärdeten. Auch bei den Grünen wirkt der Jubel arg erzwungen – trotz eines sehr guten eigenen Ergebnisses. Rot-Grün hat aber nun mal keine Mehrheit, und im Bund steht kein Südschleswigscher Wählerverband bereit, der notfalls den Steigbügel hält. Ernüchterung also bei Rot-Grün, deren Hoffnung sich am Ende darauf beschränkt, mit Hilfe einer sogenannten Dänen-Ampel eine Regierung stellen zu können. Aber Kanzlerin Angela Merkel (CDU) dürfte ihr Urteil ebenfalls schon gefällt haben. Egal, wohin die Wähler bis zur Bundestagswahl im Herbst 2013 noch wandern werden: Auch für Schwarz-Gelb wird es wohl nicht reichen.

 

Peter Altmeier favorisiert Große Koalition

So gesehen könnte das Statement von CDU-Geschäftsführer im Bundestag Peter Altmeier schon mal eine gute Übung für den Wahlabend nach der Bundestagswahl sein. Altmeier appellierte an die „staatspolitische Verantwortung“ der Genossen. Soll heißen: die SPD soll sich nicht zieren und in einer Großen Koalition in Kiel mit anpacken, natürlich unter Führung der CDU. Davor graut es den Genossen aber. Und im Bund mag man sich das erst recht nicht vorstellen, nach den traumatischen Erfahrungen bei der Bundestagswahl 2009. In den Parteizentralen richten sich die Blicke jetzt gespannt auf den nächsten, bedeutenderen Wahlsonntag in Nordrhein-Westfalen. Aber auch dort zeigt sich mit dem prognostizierten Einzug der Piraten ein diffuses Stimmungsbild – und nur dem Amtsbonus der populären Ministerpräsidentin Hannelore Kraft wäre es zu verdanken, wenn es für Rot-Grün am Ende knapp reichen würde.

Nicht nur bei SPD, Grünen und Union dauert das Rätselraten an, wie es weitergehen soll. Die Linke, die sich im Bund beharrlich von oben an die Fünfprozentmarke heranarbeitet und demnächst der FDP in der Kategorie Existenzkampf Gesellschaft leisten dürfte, wird nach ihrem Scheitern in Schleswig-Holstein Mühe haben, ihre Führungsdebatte geordnet zu Ende zu bringen.

FDP spricht vom „Wunder in Kiel“

Und die FDP? Sie spricht trotz eines Verlustes von über sechs Prozentpunkten nicht zu Unrecht schon vom „Wunder von Kiel“, weil noch vor wenigen Wochen dort gerade mal zwei Prozent prognostiziert worden waren. Allerdings weiß man in der Parteizentrale, dass dadurch die Debatte über den Parteichef Philipp Rösler nur vertagt ist. Wählerbefragungen ergaben, dass dieser Erfolg ausschließlich Wolfgang Kubicki gutgeschrieben werden muss. 74 Prozent der FDP-Wähler im Norden gaben bei einer Befragung der ARD an, die FDP habe den falschen Vorsitzenden. Also wird trotz des Achtungserfolgs und trotz erstaunlich guter Aussichten in NRW weiter am Stuhl des Vorsitzenden Philipp Rösler gesägt. Nachdem auch dem „Spiegel“ zuletzt aufgefallen ist, dass in der FDP unabhängig von möglichen Wahlerfolgen intensiv über die Ablösung Röslers nachgedacht wird, folgte zwar eine Welle öffentlicher Solidaritätsbekundungen für Rösler, aber Tatsache bleibt, dass in der Partei von „einem Aufbruch ohne Rösler“ die Rede ist. Zuspitzen dürfte sich die Situation allerdings erst, wenn offen und nicht mehr nur verdeckt darüber diskutiert wird, wer als Spitzenkandidat bei der Bundestagswahl antreten soll.