Ist der Rechtsstaat im Fall Amri wirklich bis an seine Grenzen gegangen? Nein, sagt ein Gutachter der NRW-Liberalen. Der Tunesier hätte in Baden-Württemberg in U-Haft genommen werden können.

Stuttgart - Der Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri hätte in Baden-Württemberg in Untersuchungshaft genommen werden können. Zu diesem Ergebnis kommt der Regensburger Rechtsprofessor Henning Ernst Müller in einem Gutachten für die FDP-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag. Die Amri zur Last gelegten Straftaten wie Urkundenfälschung oder Betrug seien zwar „im unteren Spektrum anzusiedeln“ und hätten wohl nur zu einer Bewährungsstrafe geführt. Allerdings komme U-Haft auch bei leichteren Taten in Frage, wenn der Beschuldigte sich nicht ausweisen könne, keinen festen Wohnsitz habe oder Vorkehrungen zur Flucht getroffen habe, schreibt Müller. Bei Amri mit seinen „vielfach falschen Identitäten“ hätte Fluchtgefahr als Haftgrund auf der Hand gelegen.

 

Untersuchungshaft wäre im Fall des Tunesiers „nicht von vornherein als unverhältnismäßig“ anzusehen gewesen. Die verschiedenen Tatvorwürfe hätten dazu zu einem Strafverfahren zusammengeführt werden können, argumentiert der Professor. Nach dem Aufgreifen Amris im Sommer 2016 in Friedrichshafen wären das örtliche Amtsgericht oder die Staatsanwaltschaft Ravensburg zuständig gewesen. Später hätte auch Abschiebehaft beantragt werden können. Zuständig für ausländerrechtliche Maßnahmen waren Behörden in Nordrhein-Westfalen. Allein in Baden-Württemberg hatten sich drei Staatsanwaltschaften mit dem späteren Attentäter beschäftigt, hatte Innenminister Thomas Strobl (CDU) kürzlich der Stuttgarter Landtags-FDP berichtet; bundesweit waren es acht in elf verschiedenen Verfahren.

Wirklich keine Handhabe für Haft?

Müller hatte in dem Gutachten die „ausländerrechtlichen und strafprozessualen Möglichkeiten“ im Fall Amri untersucht. Die FDP wollte damit Aussagen der Düsseldorfer Innenministers Jäger widerlegen, man sei bei dem Tunesier schon „bis an die Grenzen des Rechtsstaats gegangen“; die Gesetze hätten allerdings nicht ausgereicht, ihn zu inhaftieren.

Aufgrund des Gutachtens hat das Stuttgarter Justizministerium die Staatsanwaltschaft Ravensburg zu einer Stellungnahme aufgefordert. Laut einem Sprecher ergab diese, dass von Untersuchungshaft abgesehen wurde, um die Abschiebung Amris nicht zu behindern. Ausländerrechtliche Maßnahmen hätten in solchen Fällen Vorrang. Zudem verwies der Sprecher auf die „Sondersituation“ im Jahr 2016 durch den großen Zustrom von Flüchtlingen. In der Folge kam es vielfach zu Delikten wie Urkundenfälschung. Das Stuttgarter Innenministerium wollte das Gutachten nicht kommentieren. Für die darin dargestellten ausländerrechtlichen Maßnahmen sei man nicht originär zuständig.

Rülke warnt vor Kontrollverlust

Der FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke sieht sich durch die Darstellung in der Ansicht bestätigt, „dass zu Gunsten der Asylbehörden nicht alle Möglichkeiten der Strafverfolgung ausgeschöpft wurden“. Eine solche „Hin- und Herschieberei“, an deren Ende der Kontrollverlust und ein faktisch wehrloser Staat stehe, dürfe sich nicht wiederholen. Rülke sagte weiter: „Schon jetzt glauben mit einiger Berechtigung viel zu viele Menschen in unserem Land, dass man hier gefahrlos Straftaten begehen kann.“ Alle Taten müssten aber konsequent verfolgt werden, kleinere Delikte sollten zu einer beschleunigten Abschiebung führen.