Bertelsmann-Manager Jörg Dräger hat sich mit der Protestbewegung rund um Stuttgart 21 befasst – und spricht sich jetzt für eine frühere Beteiligung der Bürger aus.

Stuttgart - Der Bau des Tiefbahnhofs wird vorangetrieben, auf den Fildern soll bald über die Anbindung des Flughafens gesprochen werden. Doch welches sind die Lehren, die aus dem Streit über Stuttgart 21 zu ziehen sind? „Bürgerbeteiligung muss viel früher beginnen“, sagt der Partizipationsexperte Jörg Dräger. Er ist Vorstand der Bertelsmann-Stiftung.

 

Herr Dräger, kennen Sie eigentlich den Schlossgarten in Stuttgart?
Ja, von früheren Besuchen. Aber als ich auf meinem Weg zum Hotel durch den Schlossgarten lief, war ich doch tief beeindruckt: Wenn man am Bauzaun steht, die kahle Fläche sieht, die teilweise abgeholzten Bäume, die Kerzen – dann wird die ganze Emotionalität noch einmal deutlich, die in dem Thema Stuttgart 21 steckt.

Die Pläne für den Bahnhof haben die Stadt gespalten. Glauben Sie, dass der Volksentscheid vom vergangenen Herbst hilft, wieder Frieden einkehren zu lassen in Stuttgart?
Frieden wird sicher irgendwann wieder in Stuttgart einkehren – spätestens, wenn die Menschen sich an den neuen Bau gewöhnt haben. Aber ein Volksentscheid alleine bringt keinen Frieden. Der ist ja eher ein Zeichen des Scheiterns als ein Symbol für echte Bürgerbeteiligung.

Pardon, die neue grün-rote Landesregierung rühmt sich, weil sie dieses für Baden-Württemberg ungewöhnliche Instrument der direkten Beteiligung erfolgreich erprobt hat.
Ja, aber ein politischer Konflikt wird doch durch eine Volksabstimmung nicht gelöst. Denn echter Interessenausgleich ist in einem solchen Verfahren nur schwer möglich. Die Akzeptanz von politischen Entscheidungen erhöht sich nicht, wenn die Bürger erst ganz am Ende eines langen Prozesses zu einer Ja-oder-Nein-Abstimmung gebeten werden. Akzeptanz entsteht, wenn die Bevölkerung schon zu frühen Zeitpunkten ernsthaft mit einbezogen wird – und zwar bereits in dem Moment, wenn sich ein Problem stellt. Erst wenn sich alle einig darüber sind, dass ein Problem überhaupt besteht, dass man handeln muss, kann ich gemeinsam nach Lösungen suchen.

Wir erörtern jetzt aber bitte nicht die Frage, ob Stuttgart einen neuen Bahnhof braucht?
Keine Sorge, ich bin ja kein Verkehrsexperte. Aber die Debatte hätte in der Tat sehr frühzeitig und sehr offensiv geführt werden müssen. Dass es dabei manche Versäumnisse gibt, ist im Übrigen nicht nur ein Stuttgarter Phänomen. Bei uns herrscht generell immer noch weitgehend die Vorstellung, Information sei eine Holschuld der Bürger, frei nach dem Motto: Wir legen Pläne im Rathaus aus, und wenn ihr nicht kommt und guckt, seid ihr selbst dran schuld. Klar muss sein, dass Information auch eine Bringschuld der Politik ist. Da braucht es neue Wege und Ideen, die Themen in die Bevölkerung hineinzutragen.

Ihr Idealismus in Ehren: in Stuttgart wird seit Mitte der 1980er Jahre über die Neuordnung des Bahnknotens diskutiert. Welcher Bürger hat schon einen so langen Atem?
Das Erstaunliche ist ja, dass in Deutschland die Verfahren trotz geringer Partizipation so lange dauern – oder besser wegen so geringer Partizipation. Es zeigt sich nämlich eines: wenn ich nicht in Beteiligung investiere, repariere ich nachher umso mehr. Dann habe ich Klagen am Hals – oder es wird versucht, über Umwege wie den Borkenkäfer ein Projekt zu torpedieren.

Erlauben Sie etwas Nachhilfe: im Schlossgarten handelt es sich um den Juchtenkäfer.
Ich wusste doch, dass es ein Käfer war. Der ist aber ja nur Mittel zum Zweck, um ein Verfahren aufzuhalten.

Damit haben Sie aber noch keine Idee entwickelt, wie sich Protest verhindern ließe, der auch Salz in der Suppe der Demokratie ist.
Es ist doch allemal besser, wenn sich die Menschen kreativ für etwas als gegen etwas engagieren. Schließlich wollen wir die Probleme ja lösen, nicht verschieben. Es gibt aber durchaus Wege, wie die Menschen früh in politische Prozesse eingebunden werden – mit einem enormen Gewinn für die Gemeinschaft.

Ist das nicht graue Theorie?
Keineswegs. Im amerikanischen Portsmouth beispielsweise gibt es sogenannte „study circles“, eine Art Diskussionsforen, die offen für alle Bürger sind. Die Menschen dort haben auf diese Weise ein so sprödes, aber für Eltern extrem wichtiges Thema wie die Festlegung der Schulbezirksgrenzen absolut erfolgreich bearbeitet. In Deutschland hätte mit Sicherheit die Verwaltung hinter verschlossenen Türen geplant – und sich nachher gewundert, dass die Bürger sich entrüsten.

Nun lässt sich über Schulbezirksgrenzen auf dieser Ebene möglicherweise noch diskutieren – aber auch über komplexe eisenbahntechnische Fragen? Da ist doch zumindest Skepsis angebracht.
Politiker sind doch auch keine Fachleute für Gleiswege und Bahnhöfe. Bei Stuttgart 21 hätte sich aber möglicherweise ein anderes Modell angeboten – nämlich das der Bürgerforen. Dabei diskutieren repräsentativ ausgewählte Bürger, vom Automechaniker bis zum Physikprofessor, über einen längeren Zeitraum sachorientiert über ein Thema und bringen dadurch Neutralität in eine Debatte. Vor allem erhöht das die Akzeptanz enorm, weil die Bevölkerung das Gefühl hat, da war „einer von uns“ beteiligt, und nicht allein die politische Klasse. In British Columbia wurde damit sogar die Reform des Wahlrechts angegangen.

Na, wunderbar. Dann braucht es gar keine Parlamente mehr?
Bei den „study circles“ entscheidet abschließend sehr wohl der Rat der Stadt, also das repräsentativ gewählte politische Gremium. In British Columbia gab es am Ende einen Volksentscheid. Aber das sind ja nur zwei von über 100 Modellen, die wir bei der Bertelsmann-Stiftung zusammengetragen haben. Für Bürgerbeteiligung gibt es keine Patentrezepte, da muss jede Kommune, muss jedes Land für sich einen eigenen Weg finden. Eine Gemeinsamkeit aber gibt es über alle Ideen hinweg: Die Bevölkerung wird viel früher, kontinuierlicher und intensiver eingebunden, als das bisher bei uns in Deutschland vielfach üblich ist.

Nach der Geburt des Stuttgarter Wutbürgers hat die Politik aber auch hierzulande neue, bisher unbekannte Wege eingeschlagen. Was halten Sie eigentlich von der Geißler-Schlichtung?
Zu dem Zeitpunkt und angesichts der hochschlagenden Emotionen war ein Schlichtungsverfahren unausweichlich – allein um wieder zu einer Dialogkultur zu finden. Wir sind uns sicher einig, dass die Schlichtung viel zu spät kam und dennoch richtig war, lieber spät nämlich als nie.

In der Innenstadt ist Stuttgart 21 auf Baustelle, rund um den Flughafen ist die Gleisführung aber offen. Filderdialog heißt jetzt das Zauberwort, in dessen Rahmen eigentlich ergebnisoffen nach der besten Lösung gesucht werden soll – aber bitte, ohne dass es teurer als bisher geplant wird. Ist da nicht neuer Ärger programmiert, wenn ein ergebnisoffenes Verfahren angekündigt wird, dessen Ergebnis aber gar nicht offen ist?
Klar, wenn die Menschen das Gefühl bekommen, dass Partizipation nur ein Feigenblatt ist, um hinterher sagen zu können: wir haben ja geredet – dann fühlen sich die Bürger zumindest getäuscht, und dann sind auch Eskalationen nicht ausgeschlossen. Allerdings halte ich es für legitim, von Seiten der Politik den Rahmen zu definieren. Insofern ist ein Kostendeckel per se nicht zu kritisieren. Sonst erarbeite ich möglicherweise Lösungen, die unrealistisch sind und sich niemals finanzieren lassen. Auch das würde zu Irritationen führen.

Was können Politiker selbst tun, um ihre Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in die Politik wieder zu erhöhen?
Politiker werden heute oft zu Unrecht als bürgerfern kritisiert. Die Messlatte liegt zuweilen zu hoch. Trotzdem müssen Politik und Politiker dem Vertrauensverlust aktiv entgegenwirken. Da hilft nur, bei einem immer aufgeklärteren Bürgertum, eine möglichst hohe Transparenz. Vielleicht müssen die Politiker ja auch nur ihre Angst davor verlieren, dass frühe Partizipation ihre eigene Rolle schwächen könnte. Das Gegenteil ist nämlich der Fall.