Sozialverbände und Opposition werfen der Regierung Versagen vor, doch ein Armutsforscher warnt vor einer Dramatisierung.

Berlin/Stuttgart - Trotz der guten Konjunktur in Deutschland ist die Kinderarmut in den vergangenen Jahren leicht gestiegen – also der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, die Grundsicherung für Arbeitssuchende erhält (Hartz IV). 2015 waren 14,7 Prozent der unter 18-Jährigen auf Hartz IV angewiesen, 2011 waren es noch 14,4 Prozent gewesen. In absoluten Zahlen betraf das 2015 bundesweit rund 1,93 Millionen Kinder.

 

Von allen Minderjährigen im Hartz-IV-Bezug lebten 50 Prozent bei alleinerziehenden Müttern oder Vätern. 36 Prozent lebten in Familien mit drei oder mehr Kindern.

Sozialverbände und Opposition sprachen von alarmierenden Zahlen und forderten eine Anhebung des Hartz-IV-Regelsatzes für Kinder.

Nach der Studie der Bertelsmann-Stiftung auf Basis von Daten der Bundesagentur für Arbeit stellen sich die Zahlen regional recht unterschiedlich dar. Während in Westdeutschland die Hartz-IV-Quote für Kinder von 12,4 auf 13,2 Prozent stieg, fiel sie in Ostdeutschland von 24 auf 21,6 Prozent.

Baden-Württemberg und Bayern stehen besser da

In Baden-Württemberg (8,0 Prozent) und Bayern (6,8 Prozent) ist die Quote besonders niedrig – ein Spiegelbild der guten Lage auf dem Arbeitsmarkt. Doch auch in den beiden wirtschaftsstarken Südländern legte die Quote seit 2011 um 0,5 beziehungsweise 0,4 Prozentpunkte leicht zu.

„Kinder in Armut können ihre Lebenssituation nicht selbst ändern. Deshalb hat der Staat hier eine besondere Verantwortung. Kinderarmut in Deutschland darf sich nicht weiter verfestigen“, sagte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung.

Dagegen warnte der Armutsforscher Christian Arndt vor einer Überbewertung. „Ein Anstieg von 0,4 Punkten über vier Jahre ist alles andere als dramatisch. Von einem systematischen Anstieg kann eigentlich keine Rede sein“, sagte der Wirtschaftswissenschaftler der Hochschule Nürtingen-Geislingen. Die Prozentzahl von Kindern im Hartz-IV-Bezug könne zudem kein abschließendes Bild der Qualität des Aufwachsens und der Entwicklungschancen von Kindern zeichnen.

Staatlichen Handlungsbedarf sieht Arndt vor allem mit Blick auf Alleinerziehende. „Sie müssen Familie und Beruf unter einen Hut bringen. Da macht mehr gezielte finanzielle Unterstützung Sinn, damit sich die Frauen und Männer weiterbilden und qualifizieren können.“ Auch die Betreuungsmöglichkeiten müssten weiter verbessert werden, vor allem für schulpflichtige Kinder.

Mannheim hat die meisten Hartz-IV-Kinder im Land

Landessozialminister Manfred Lucha (Grüne) verwies darauf, dass Kinder in Baden-Württemberg vergleichsweise weniger von Armut gefährdet sind. Dennoch gelte für ihn: „Jedes Kind, das von Armut bedroht ist, ist eines zu viel.“ Er werde sich weiter dafür einsetzen, dass alle die gleichen Entwicklungschancen haben. Es gehe darum, der Verfestigung von Armutsbiografien bereits im Kindesalter vorzubeugen.

Nach den Zahlen der Bertelsmann-Stiftung stieg der Anteil von Kindern in staatlicher Grundsicherung in neun von 16 Bundesländern – am stärksten in Bremen (plus 2,8 Punkte), im Saarland (plus 2,6) und in Nordrhein-Westfalen (plus 1,6). Die höchsten Hartz-IV-Quoten bei den unter 18-Jährigen gab es in Städten. Besonders hoch waren die Anteile in Bremerhaven (40,5 Prozent), Gelsenkirchen (38,5) und Offenbach (34,5), aber auch in Berlin (32,2).

Auch in Baden-Württemberg liegen die Städte vor: Mannheim (22 Prozent), Pforzheim (21,1) und Freiburg (15,6). In Stuttgart leben 13,3 Prozent der Kinder in Hartz-IV-Haushalten.

„Kinderarmut beeinträchtigt die Chancen für das ganze Leben“, mahnte Stiftungsvorstand Dräger von der Bertelsmann-Stiftung. Die Existenzsicherung müsse sich daran orientieren, „was Kinder für gutes Aufwachsen und Teilhabe brauchen“, forderte er. Das Deutsche Kinderhilfswerk sprach von einem „erneuten Weckruf“ an die Bundesregierung. Die Tatsache, dass trotz guter Konjunktur die Kinderarmut „auf einem skandalös hohen Niveau verharrt“, offenbare ein strukturelles Problem, kritisierte Präsident Thomas Krüger.