Schiedmayer Stuttgart – das war mal etwas Großes. Die Firmenchefin pflegt diese Historie – und das heutige Alleinstellungsmerkmal: die Celesta, das „himmlische“ Tasteninstrument.
Schiedmayer! Der Name hat einen Klang. Er klingt nach Klavier. Nach Geschichte. Nach Klaviergeschichte. Und er klingt nach Stuttgart. Hier spielten große Kapitel der 290-jährigen Klavierbauer-Dynastie, die sich mit dem Namen Schiedmayer verbindet. Es war hier, in Stuttgart, wo Johann Lorenz Schiedmayer (1786-1860) zusammen mit Carl Wilhelm Friedrich Dieudonné (1783-1825), einem befreundeten Klavierbauer, den er in der berühmten Klavierfabrik von Andreas und Nannette Streicher in Wien kennengelernt hatte und mit dem er vor Napoleons Truppen geflohen war, in der Charlottenstraße 4 die „Clavier“-Manufaktur Dieudonné-Schiedmayer gründete. Ein junges Klavier-Start-up. In den folgenden Jahren sollte es sich zu einer namhaften Fabrik mit industrieller Fertigung entwickeln.
Daran änderte auch der frühe Tod Dieudonnés nichts. In der oberen Neckarstraße, an zentraler Stelle in der Stadt, bauten Schiedmayer und seine vier Söhne die Marke in zwei benachbarten, dann auch konkurrierenden Firmen auf – der 1845 gegründeten Firma Schiedmayer & Söhne und der 1853 entstandenen Firma J. & P. Schiedmayer, die zunächst auf den Bau von Harmoniums spezialisiert war. Schiedmayer war wer in der Stadt. Es gab Zeiten, da schaffte man in Stuttgart sprichwörtlich „beim Schiedmayer“, wie später „beim Bosch“ oder „beim Daimler“.
Der Krieg zerstörte das Lebenswerk
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Arbeit vieler Generationen zerstört. Im Juli 1944 brannten die Fabrikgebäude, in denen zeitweise bis zu 400 Mitarbeiter beschäftigt waren, nach Bombentreffen vollständig aus. „Das Lebenswerk der Klavierbauerfamilie Schiedmayer in Stuttgart war vernichtet“, heißt es in einer Firmenbroschüre. Nach dem Krieg erfolgte ein provisorischer Wiederaufbau. In den 1960er-Jahren musste die Firma ihren Standort in der oberen Neckarstraße, die nun Konrad-Adenauer-Straße hieß, verlassen, um der dort entstehenden „Kulturmeile“ Platz zu machen. Die Produktion wurde nach Altbach verlagert, wo die Firma bereits einen Ableger hatte. 1985 erfolgte der Umzug nach Wernau. Seit 2000 ist die Produktion in Wendlingen angesiedelt.
Jetzt, nach fast 80-jähriger weitgehender Stuttgart-Abstinenz, ist Schiedmayer in der Landeshauptstadt wieder sichtbar. Am 22. Juli wurde der bis dahin namenlose Platz zwischen Musikhochschule, Haus der Geschichte und Haus der Abgeordneten feierlich nach Johann-Lorenz-Schiedmayer benannt. Also exakt jener Ort, an dem sich einst das Schiedmayer-Areal befand. Für die Beteiligten war das wie ein Nachhausekommen. Wobei der Name nie ganz aus der Stadt verschwunden war. Im Fruchtkasten am Schillerplatz, dem Haus der Musik, sind Schiedmayer-Instrumente ausgestellt. Das Haus der Wirtschaft ziert ein Relief des auf dem Fangelsbachfriedhof begrabenen Johann Lorenz Schiedmayer. Und bis heute steht der Name im örtlichen Handelsregister – als eine der ältesten Firmen der Stadt.
Schiedmayer im Jahr 1942 in der damaligen oberen Neckarstraße. Rechts davon stand die alte Württembergische Landesbibliothek. 1944 wurden die Firmengebäude durch Bombentreffer zerstört. Foto: Stadtarchiv Stuttgart
Für Klavierkenner und Pianisten war Schiedmayer ohnehin präsent. Schon wegen des charakteristischen, warmen Klangs! Bei der Platzeinweihung im Juli war davon etwas zu hören. Zur Feier des Tages spielten Pianisten in der Musikhochschule auf einem Hammerflügel von Johann Lorenz Schiedmayer aus dem Jahr 1830. Schiedmayer hatte die Musikhochschule 1857 mitbegründet. Stuttgarts Kulturbürgermeister Fabian Mayer würdigte ihn in der Feierstunde als bedeutenden Mäzen und Unternehmer mit sozialem Gewissen. Das 2002 eröffnete Haus der Geschichte erinnert indirekt immer schon an den Klavierfabrikanten. Sein Grundriss weist die Form eines Konzertflügels auf.
Der neue Platz ist ein guter Ausgangspunkt, um sich der weitverzweigten Geschichte zu nähern. Er führt zu Elianne Schiedmayer, der Geschäftsführenden Gesellschafterin der von ihr 1995 gegründeten Schiedmayer-Celesta GmbH. Die 81-Jährige hütet das Firmenerbe wie einen Schatz – aus Respekt vor dem Erreichten und auch aus Liebe zu ihrem verstorbenen Mann. Johann Georg Schiedmayer (1931-1992) hatte das Unternehmen seit 1957 geleitet und die beiden Firmenäste Schiedmayer & Söhne und Schiedmayer-Pianofortefabrik zusammengeführt. „Ich habe ja zu ihm gesagt, damit habe ich auch zu diesem Unternehmen ja gesagt“, schildert seine Witwe den Moment, als sie bei der Testamentseröffnung erfuhr, dass ihr Mann sie als Alleinerbin eingesetzt hatte.
Das Büro von Elianne Schiedmayer strotzt vor Geschichte und Geschichten
Allen Widrigkeiten zum Trotz entschloss sie sich, die Firma nicht zu verkaufen, sondern fortzuführen. Dieses unbedingte Ja strahlt sie auch 33 Jahre später noch aus. Ihr Büro in der kleinen Fabrik im Wendlinger Gewerbegebiet ist zugleich ein privates Museum. Ringsrum stehen Tasteninstrumente; Schiedmayer-Produkte aus zwei Jahrhunderten, die die Entwicklung des Pianoforte dokumentieren. Es strotzt hier vor Geschichte und Geschichten. Das beginnt beim Stammbau, der über dem Schreibtisch hängt, angeführt von Urahn Balthasar Schiedmayer (1711-1781). Im Jahr 1735 baute er in Erlangen sein erstes Clavichord. Das war der Beginn der Schiedmayer-Dynastie.
Beim Geschichten-Ausgraben hört man Elianne Schiedmayer gerne zu. Wenn sie etwa auf einen eingerahmten Brief verweist, den die beiden Stuttgarter Gründer Johann Lorenz Schiedmayer und Carl Wilhelm Friedrich Dieudonné 1819 selbstbewusst an den württembergischen König Wilhelm I. geschrieben hatten, um die Verlegung ihres aufstrebenden Betriebes von der Charlotten- in die Neckarstraße zu erreichen. Neben der Württembergischen Landesbibliothek und gegenüber der Hohen Karlsschule wollten sie bauen – am heutigen Johann-Lorenz-Schiedmayer-Platz. Prominenter hätte die Lage nicht sein können. Der König stimmte zu. Als Architekten gewannen sie keinen Geringeren als den Hofbaumeister Nikolaus Friedrich von Thouret. 1821 zogen sie ein. Später erhielt die Firma den Titel „Königlich kaiserlicher Hoflieferant“.
Der Bau von Celestas ist ein komfortables Nischendasein
Man folgt Elianne Schiedmayer durch die Geschichte – von Instrument zu Instrument, die sie der Reihe nach kurz anspielt. Vom frühen Clavichord, zum Pianoforte, den Hammer- und Tafelklavieren, zu den Harmoniums und Flügeln bis zu den Celestas. Seit 1890 stellt Schiedmayer diese Tastenglockenspiele her. Als die Klavier-Konkurrenz aus Asien in den 1970er-Jahren immer größer wurde, boten die Celestas die Chance eines komfortablen Nischendaseins.
1980 stellte Schiedmayer die Klavierproduktion ein. Seitdem baut die Firma ausschließlich Celestas. Sie betont dieses Alleinstellungsmerkmal. Die Firma sei weltweit die einzige, die dieses Instrument getreu der von Victor Mustel 1886 entwickelten Mechanik herstellen würde, versichert die Chefin. Bei einer Celesta schlagen Filzhämmer auf Metallplatten, die auf Holresonatoren liegen. Der Anschlag erfolgt von oben und nicht wie beim Flügel von unten.
Vieles dreht sich bei Schiedmayer heute um Celestas. Gleichzeitig klingt die Klaviertradition nach – etwa in Gestalt großer Pianisten- und Komponisten, die mit dem Haus verbunden waren: Franz Liszt, Frédéric Chopin, Richard Strauss, Richard Wagner, Clara Schumann oder Friedrich Silcher.
Stuttgart war der gebürtigen Haitiianerin völlig fremd
Auch ihre eigene Geschichte ist eine besondere. Elianne Schiedmayer, geborene Villard, stammt aus Haiti. Über ein Stipendium kam sie Anfang der 1960er-Jahre nach Berlin, wo sie Klavier, Pädagogik und musikalische Früherziehung studierte. Nach ihrer Rückkehr wollte sie in dem Karibikstaat Kinder unterrichten. Es kam anders. Der Klavierhersteller Yamaha suchte eine Lehrerin für seine Musikschule in Stuttgart. Sie sagte zu, obwohl ihr die Stadt fremd war – und landete im Hause Schiedmayer, wo diese Musikschule untergebracht war, und sie ihren künftigen Mann kennenlernte. Es war eine Entscheidung fürs Leben – und für das Haus Schiedmayer, dessen Geschichte sie mit großer Energie fortschreibt.
Seit 2003 firmiert das Unternehmen unter dem Namen Schiedmayer Celesta GmbH. 2016 kam die Schiedmayer-Stiftung dazu. Die Stiftung fördert Wissenschaft, Bildung und Kultur, pflegt die Sammlung historischer Instrumente und veranstaltet Konzerte im hauseigenen „Claviersalon“. Traditionspflege und Zukunftsorientierung gehen Hand in Hand. Auch die Nachfolge hat Elianne Schiedmayer, die ein Leben lang Kinder an die Musik heranführte, jedoch selbst kinderlos blieb, längst im Blick. Nach 290 Jahren hört man nicht so einfach auf . . .
Eine Celesta kostet zwischen 16 000 und 46 000 Euro
Der Ausflug in die Geschichte mündet in einen Rundgang durch die aktuelle Produktion. Im Erdgeschoss des Firmengebäudes entsteht gerade eines jener „himmlischen“ Tasteninstrumente, von denen im Firmenprospekt die Rede ist. Die Werkstatt erinnert an einen Bastelraum von Modellbauern. Klein, fein, detailversessen. Weniges nur wird zugeliefert: die Tastaturen etwa. Der Rest ist Handarbeit. Das hat seinen Preis. Zwischen 16 000 und 46 000 Euro kostet eine Schiedmayer-Celesta, abhängig auch vom Tonumfang. Pro Jahr stellt das siebenköpfige Team aus Schreinermeistern, Orgel- und Klavierbauern etwa 30 Instrumente her. Auftraggeber sind Orchester, Opernhäuser, Musikhochschulen oder einzelne Musiker. Auch in die Mühleisen-Orgel der Stuttgarter Stiftskirche ist ein solches Tastenglockenspiel eingebaut – auf speziellen Wunsch von Stiftskirchenkantor Kay Johannsen. Das ist aber nichts gegen Harry Potter! Der erste Teil der achtteiligen Filmreihe beginnt mit „Hedwig’s Theme“, einer Melodie, die auf einer Schiedmayer-Celesta eingespielt wurde.
„Wo ist Armenien?“, fragt die Firmenchefin beim Werkstattbesuch fröhlich in die Runde. „Dort hinten“, ruft ein Mitarbeiter: „Neben Riga und Kirgisien!“ Die Komponenten für die Celestas, die demnächst dorthin geliefert werden, sind auf Montagewagen platziert und beschriftet. Auch „Australien“ ist dabei. In diesem Moment kann man es förmlich spüren: Schiedmayer/Wendlingen ist der Nabel der Celesta-Welt.