Ist dem Bürokollegen noch zu helfen? Er antwortet auch mitten in der Nacht auf E-Mails. Wohin wird das führen? Ein Philosoph fragt zurück: Ist die Technik das Problem oder der unreife Umgang damit?

Stuttgart - Willkommen in der philosophischen Beratung! Setzen Sie sich bitte! Möchten Sie einen Kaffee? Sie sind also gekommen, um über Ihr Allgemeines Beschleunigungssyndrom zu sprechen. Ach, es geht nicht um Sie persönlich. Um wen denn? Ihren Bürokollegen. Nun gut, dann reden wir über ihn. Wie geht es ihm? Eigentlich sehr gut, sagen Sie. Er arbeitet viel, beantwortet Mails auch mitten in der Nacht. Warum machen Sie sich dann Sorgen? Weil er ständig auf seinem Smartphone tippt und viel Zeit bei Facebook verbringt, nun gut. Aber das scheint ihm Spaß zu machen, wenn ich Sie richtig verstehe. Okay, jetzt begreife ich erst: Sie machen sich ganz allgemein Sorgen, wohin das alles mit Ihrem Kollegen führen wird.

 

Erlauben Sie aber, dass ich nachfrage: Von welchen Risiken gehen Sie aus? Dass die neue Technik Ihren Kollegen irgendwann überlastet. Sie glauben also nicht, dass er dem Strom der Mails und Kurznachrichten standhalten wird. Das ist recht allgemein formuliert, wenn Sie mich fragen, und auch nicht neu. Warten Sie, ich zeige Ihnen einen Kommentar von Heinrich Heine. 1842 hatte die französische Regierung beschlossen, den Bau von Eisenbahnen zu fördern. Am 2. Mai 1843 wird dann eine Strecke von Paris nach Orléans eröffnet. Ein paar Tage später schreibt Heine darüber.

„Während aber die große Menge verdutzt und betäubt die äußere Erscheinung der großen Bewegungsmächte anstarrt, erfasst den Denker ein unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind . . . Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unseren Anschauungen und Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Raum und Zeit sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Hätten wir Geld genug, um auch letztere anständig zu töten!“

Sie kennen das Argument, sagen Sie. Haben alles zum Thema Beschleunigung der Gesellschaft gelesen. Vielleicht ist das schon Ihr Problem? Entschuldigen Sie, ich vergaß, es geht um Ihren Kollegen. Ich wollte Ihre Sorgen auch nicht wegdiskutieren. Ihre Sorgen sind da, und wir werden sie nun analysieren. Bleiben wir aber kurz bei Heine: Könnte man es nicht auch als Fortschritt sehen, dass wir heute in der Lage sind, auch die Zeit zu töten? Die neuen Medien erlauben uns, viele Aufgaben ohne Zeitverzug zu erledigen.

Die Nachteile der Technik vermeiden?

Sie müssen nicht so grimmig gucken. Mir geht es nur darum, etwas aus Ihnen herauszukitzeln. Okay, Sie sagen, dass es nicht gesund sein kann, die Zeit zu töten. Man kann die Gedankengänge nicht beliebig beschleunigen. Man kann nur einen Gedanken nach dem anderen haben, die Technik beschwört aber zu viele Gedanken gleichzeitig herauf.

Wenn ich Sie richtig verstehe, sehen Sie das Problem also nicht in der Technik, sondern im Umgang damit. Denn man könnte den Datenstrom ja begrenzen. Stimmt, das Smartphone auszuschalten ist als Lösung vielleicht zu einfach. Aber man kann doch Newsletter abbestellen oder den Firmenserver so einrichten, dass er nach 20 Uhr keine dienstlichen E-Mails mehr zustellt. Oh, dazu haben Sie nun ein Zitat mitgebracht. Von wem stammt es? Sie haben einen Vortrag von Joachim Charzinski gehört, der an der Hochschule der Medien in Stuttgart im Studiengang Mobile Medien lehrt. Lassen Sie hören!

„Wer heute eine Idee hat, kann sie sofort umsetzen. Wenn man zum Beispiel ein Buch empfohlen bekommt, kann man es gleich bei Amazon bestellen. Man kann das tun, während man auf den Nicht-hier-und-jetzt-Dienst des öffentlichen Nahverkehrs wartet. Das erfordert eine neue Kulturtechnik: Man muss sich selber bremsen können. Früher haben das die Buchhandlungen getan: Man musste warten, bis sie öffnen.“

Ich glaube, wir nähern uns dem Kern Ihrer Sorgen. Ihr Kollege könnte doch lernen, sich selber zu bremsen, wenn ihn der Datenstrom überfordern sollte. Er könnte lernen, dass er bei einem Telefonat nicht alles mitbekommt, wenn er gleichzeitig seine E-Mails checkt. Ich würde davon ausgehen, dass Menschen mit der Zeit besser darin werden, die Nachteile einer neuen Technik zu vermeiden. Ja, ich sehe schon, das trauen Sie Ihrem Kollegen nicht zu. Sie denken, er wird sich nicht einschränken und am Ende gar nicht mehr über längere Strecken auf eine Sache konzentrieren können.

Die Technik angemessen nutzen

Aber warum sind Sie so pessimistisch? Sie wissen sicher, dass man keine zuverlässigen Prognosen erhält, wenn man einen Trend in die Zukunft fortschreibt. Es kann doch so viel passieren, das Ihren Kollegen auf eine neue Bahn lenkt. Was das sein könnte? Das weiß ich nicht. Ich bin Philosoph und nur für das Grundsätzliche zuständig. Ich kann Ihnen zum Beispiel ein optimistischeres Szenario präsentieren. Kennen Sie den Mathematiker und Philosophen Bertrand Russell? Er hat 1930 ein Buch veröffentlicht, das in der deutschen Übersetzung „Eroberung des Glücks“ heißt. Mal sehen, ob Sie diese Passage überzeugt.

„Das letzte Ziel der mechanischen Produktion – von dem wir freilich noch weit entfernt sind – ist ein System, innerhalb dessen alles Schematische von Maschinen besorgt wird, während die menschlichen Kräfte für Arbeiten aufgespart werden, die abwechslungsreich sind und Initiative verlangen. In einer solchen Welt wird die Arbeit weniger langweilig und niederdrückend sein, als sie es jemals . . . war.“

Sie haben doch berichtet, dass Ihr Kollege gern mit den neuen Medien umgeht. Das klingt doch, als sei er mit seiner Arbeit ganz zufrieden. Ach, das ist er nicht? Mit dieser Wendung habe ich nun nicht gerechnet. Was hat er Ihnen denn anvertraut? Dass er sich gefangen fühlt, weil er auf alles sofort reagieren muss. Halten Sie es für möglich, dass er sich das nur einbildet? Setzen Sie ihn etwa unter Druck? Ach so, Sie setzen sich selber unter Druck!

Das habe ich befürchtet. Sie glauben, dass alle anderen ständig online sind, und checken deshalb immer wieder Ihre Mails. Ich gebe zu, es ist verführerisch, online Präsenz zu zeigen. Aber dafür ist der Mensch nicht gemacht, und das wird die Technik auch nicht ändern. Sie müssen die Technik so nutzen, dass sie Ihnen etwas bringt.