Ein sperriger Begriff erobert die öffentliche Debatte: Inklusion. Er bezeichnet den Umgang mit behinderten Menschen. Inklusion steht in vielen Schulen auf der Tagesordnung, der Begriff beschreibt aber viel mehr: eine Gesellschaft, die Vielfältigkeit zulässt.

Stuttgart - Tims Handicap war lebensgefährlich. Der Junge ist mit einem Aneurysma im Gehirn zur Welt gekommen, das den Wasserdruck im Kopf massiv anschwellen ließ. Mit acht Monaten musste Tim deshalb operiert werden – in Paris wurde ihm mit einer damals neuartigen Methode die Gefäßaussackung verklebt. Es waren dramatische Wochen für seine Mutter Daniela B. (Namen der Betroffenen geändert), die ihr gemeinsames Leben radikal umkrempelten. „Man fühlt sich plötzlich rausgeworfen aus dem Leben und landet in einer Parallelwelt“, so beschreibt sie ihre Erfahrungen. Denn Tim konnte danach seinen Kopf nicht mehr selber halten; erst mit mehr als drei Jahren lernte er laufen.

 

Heute, zehn Jahre später, hat Tim immer noch Probleme mit der Motorik. Er kann nicht lang und nicht schnell laufen, nicht springen, er bewegt sich tapsig und behäbig. Er ist fit im Kopf, hat einen großen Wortschatz und kann sich sehr gut ausdrücken, aber er kann, auch wenn er sich sehr anstrengt, nur krakelig schreiben, weil seine Hand zittert, er bastelt nicht und schneidet nicht aus, und wenn er malt, werden es nur Strichmännchen. Er kann sich oft nicht gut konzentrieren und ermüdet schnell. Aber inzwischen besucht Tim ein kirchliches Gymnasium in der Region Stuttgart. Jeden Morgen holt ihn ein „FSJler“, also jemand, der ein freiwilliges soziales Jahr absolviert, zu Hause ab, bringt ihn in die Schule, bleibt während der Stillarbeit noch bei ihm und begleitet ihn nach Schulschluss wieder nach Hause. Daniela B. sagt, sie glaube ihren Sohn jetzt sehr gut aufgehoben, weil sie den Willen an der Schule spürt, Tim so zu akzeptieren, wie er ist. Seine Talente werden gefördert, er bekommt die Hilfe, die er braucht. „Wir geben Tim nicht auf“, haben ihr die Lehrer gesagt, obwohl es ein enormer Bürokratieaufwand war und die Schule sich von den Ämtern alleingelassen fühlte.

„Um zu integrieren, reicht eine Rollstuhlrampe nicht aus“

Vielen Schulen ist all das zu viel, weiß Daniela B. In der Grundschule habe ihr die Klassenlehrerin als Erstes erklärt, dass sie sich mit so etwas nicht auskenne. Es habe „unschöne Telefonate“ gegeben, weil die Lehrerin Tim oft als störend empfand. „Ich hatte das Gefühl, Tim macht Umstände, und deshalb wurden wir behandelt wie ein ungebetener Gast.“ So habe die Lehrerin etwa gefordert, sie solle ihren Jungen „härter anfassen“, damit er zu den anderen Kindern aufschließe. Tim sollte auf „normal“ getrimmt werden. Dass er nie so sein wird wie die anderen, war wohl schwierig zu verstehen. „Um wirklich zu integrieren, reicht eine Rollstuhlrampe eben nicht aus“, sagt Daniela B., die als Alleinerziehende ihren Job hintanstellt, um ihrem Sohn ein gutes Leben zu ermöglichen. Sie hat freilich auch eine sehr positive Feststellung gemacht: „Die Kinder haben Tim immer unterstützt; sie sind offen und hilfsbereit mit ihm umgegangen.“ Und so kommt denn auch ein Freund zum Fußballspielen eben zu Tim in den Garten, weil er in jedem normalen Fußballverein Außenseiter bleibt.