Eine wahre Ratgeberindustrie zwingt uns zu einer Wohlfühlbalance. Das ist höllisch anstrengend, meint der StZ-Redakteur Martin Gerstner. Denn die Suche nach dem Gleichgewicht hört nie auf – und lässt uns keine Ruhe.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Martin Gerstner (ges)

Stuttgart - Die Deutschen sind auf dem Weg zu sich selbst. Mit der gleichen Unerbittlichkeit, mit der sie einst ihre Expansionslust ausgelebt haben, was mitunter komische, oft aber schreckliche Ergebnisse zeitigte, suchen sie jetzt die innere Mitte, das Gleichgewicht von Individuum und Gesellschaft, von Vernunft und Gefühl, von Intellekt und Körper. Es scheint dem Deutschen kein dringenderes Anliegen zu geben als dieses, wird man erst der Unzahl von Ratgebern, Yogakursen, Innerlichkeits-Apologeten und Gesundheitsmanagern in den Buchläden, den Weiten des Internets und Fernsehtalkrunden ansichtig. Und jetzt kommt auch noch die Stuttgarter Zeitung und präsentiert eine ganze Serie zum Thema „Besser leben“. Uff!

 

Balance ist das Zauberwort. Es wird als Gegenpol zur körperlichen und seelischen Ausbeutung des Menschen, zur erzwungenen Rastlosigkeit und Unruhe interpretiert. Lebensberater und Personal Trainer begleiten ihre geplagte Klientel auf dem Weg zur Körpermitte, ermitteln Stressindex und Ausdauerfähigkeit, Selbstwertgefühl und Anspannung. Ziel ist die Work-Life-Balance, also die Fähigkeit, Privatleben und Job, Emotion und Funktion in Einklang zu bringen. Erreichte der Mensch dieses Ziel, wäre er in einer Art Stillstand, in einem mechanischen Gleichgewicht. Wer aber das Kleingedruckte liest, erkennt schnell, dass in den meisten Rezepten eine unbarmherzige und nie nachlassende Methodik zur Selbstoptimierung versteckt ist. Erst persönliche Organisation und Effizienzsteigerung machten die angestrebte Balance möglich, heißt es. Doch die Suche danach, sie endet nie.

Ewiger Kampf gegen das Chaos

Dabei wäre sie so schön, die Balance. Man stellt sich so eine Art mentale Schaukel vor, ein Gleichgewicht innerer und äußerer Kräfte, in dem der moderne Mensch wolkenartig umfangen wird. Vorbild ist womöglich das sogenannte Gleichgewicht der Natur, ein von Naturschützern und Ökologen oft heraufbeschworener Idealzustand, den es vermutlich nie gegeben hat. Denn in der Natur, aber auch in der vermeintlich durchorganisierten, arbeitsteiligen Gesellschaft herrscht ein nicht geringes Maß an Chaos, ein Überlebenskampf, ein Tricksen und Sichaufplustern, ein Herumirren und Sichverlieren. Überhitzte Systeme in Politik und Wirtschaft bringen ständig neue Krisen hervor, sogar der Herzrhythmus wird von Medizinern als chaotisches System betrachtet. Alles Bemühen von Managern, Stadtplanern, Politikern, Eltern und Journalisten läuft darauf hinaus, dieses Chaos irgendwie zu bändigen, es dem Menschen fassbar zu machen.

Das alles wären Gründe genug, den rasenden Zwang zur Selbstoptimierung infrage zu stellen, mindestens aber sich das Recht herauszunehmen, der Unvernunft zu huldigen, sich von Launen und Begierden hinwegtragen zu lassen. Aber was tun? Soll man die Lebensbalance lustvoll aus dem Gleichgewicht bringen, indem man sich eine Wampe anfuttert? Damit wäre man zumindest ästhetisch außerhalb der Norm, hätte vielleicht weniger Hemmungen, böse Gedanken zu Ende zu denken, das letzte Geld für ein von Lohnsklaven produziertes Hightechspielzeug auszugeben und sich dafür den Rest des Monats an Billignahrung zu laben. Stück für Stück würde das Korsett, das die Menschheitsverbesserer geschnürt haben, gelockert. Am Ende aber bliebe doch ein muffiger Nachgeschmack, weil eine Attitüde durch die andere ersetzt wird. Die Sehnsucht nach innerer Ruhe, die unsere Existenz grundiert, bliebe unbefriedigt. Aber selbst ein so schüchterner Ausbruch würde ja nicht geduldet, sondern skandalisiert. Unterschichtfraß! Hedonistische Ressourcenvergeudung! Stillschweigende Verblödung! Die Stempel für abweichendes Verhalten sind längst geprägt.

Mit Epikur wär’ uns das nicht passiert

Das ist nicht neu. Der Philosoph und Naturwissenschaftler Epikur definierte in der Antike die Lust als höchstes Ziel des Lebens und schwächte sogleich wieder ab: Nicht die Gelüste des Zügellosen seien gemeint, sondern die Freiheit von Körperschmerz und Seelenstörung. Mit wenigen Sätzen zertrümmerte er die altehrwürdigen Prinzipien und ihre Reiter, stellte das rastlose Streben nach Status und Vollkommenheit, die Verherrlichung der Disziplin und der Askese infrage. Sein sonniger Quietismus wurde damals aufs Schärfste gegeißelt, als staatsgefährdend verdammt. Dabei wäre er auch ein willkommener Kontrapunkt zu den Selbstoptimierern unserer Zeit.

Doch die kennen kein Pardon. Die Tage in maßvollem Genuss vorbeiziehen lassen? Niemals, schreien die Herolde der Ratgeberindustrie. Sei dir selbst nie genug, ist ihre Botschaft. Arbeite an dir! Werde jener vollkommene Mensch der Moderne, der ideenreich und teamorientiert seinen Job ausgestaltet, quer denkt, aber nicht zu viel, bewusst konsumiert, Sport treibt, seine Familie umhegt, sich und die Lieben absichert, fördert, gesund hält und zu selbstständigen Menschen heranreifen lässt, der Altersvorsorge betreibt, Rad statt Auto fährt und . . . Genug.

Nichts ist moderner als Maßhalten

Damit drängt sich eine finale Pointe förmlich auf: Dass nämlich die eigentliche Zügellosigkeit unserer Zeit der ständige Zwang zur Selbstoptimierung ist, der uns befiehlt, einem unerreichbaren Ideal hinterherzuhecheln, eine Zügellosigkeit, die letzten Endes mit nie ermüdendem Fleiß immer höhere Mauern gegen den unvermeidlichen Gleichmacher, den Tod, errichtet.

Und was wäre nun das Glück? Vielleicht, ein paar Alternativen zu prüfen, aber nicht zu viele. Vielleicht, sich mit einer halbwegs verheißungsvollen Option auch mal zufriedenzugeben. Moderne Philosophen sprechen statt vom Maximizing mittlerweile von Satisficing. Maßhalten, so ihr Lehrsatz, macht glücklicher als optimieren. Wohltätigkeit, Großherzigkeit und Vergebung sind keine Schwächen. Im Gegenteil. Doch bevor wir jetzt vor Glückseligkeit hinwegdämmern, noch ein Warnschuss an alle Maßhalter: Mit träger Selbstzufriedenheit hat das alles nichts zu tun. Der Schlüssel zur glücklichen Existenz liegt irgendwo zwischen Engagement und genügsamer Heiterkeit. Melden Sie sich bitte, wenn Sie ihn gefunden haben.