Besser leben im Kessel: In Stuttgart gibt es viele versteckte und vergessene Plätze, die zurück ins Großstadtleben geholt werden wollen – und zumindest zeitweise die Versorgung mit frischem Obst und Gemüse sicherstellen.

Stuttgart - Jeden Tag frische Kräuter von Petersilie über Schnittlauch bis hin zu Oregano, Thymian, Zitronenmelisse oder Minze. Die ersten Radieschen sind geerntet, und es sind noch viele in der Erde. Die erste Pak-Choi-Ernte – ein Verwandter des Chinakohls – war fast zu erfolgreich. Und auf der Reifeliste der kommenden Wochen stehen noch: Paprika, Tomaten, Snackgurken, Himbeeren, Johannisbeeren, Sauerkirschen, Nektarinen, Äpfel. Ob es mit einer ersten Mango-, Papaya- oder Wassermelonen-Ernte etwas wird, steht in den Sternen. Und weil es in der realen oder virtuellen Welt immer wieder gefragt wird: Nein, es ist kein ausgewachsener Garten in einer Kleingartenkolonie oder die Grünanlage eines frei stehenden Einfamilienhauses. Eigentlich ist es nur ein einstiges Alibibeet im eher dunklen Hinterhof eines großen ehemaligen Firmenhofes mitten in Gaisburg, ergänzt durch zwei kleine Billiggewächshäuser aus Alu und Plastik. So einfach kann Vielfalt sein.

 

Es gibt mittendrin in der Großstadt Stuttgart viele Möglichkeiten, sich im „Besser Leben“ zu üben. Man kann jeden Tag mit dem Elektroroller zur Arbeit fahren, frühmorgens sporteln, sich in Kindergärten, Schulen, Vereinen ehrenamtlich engagieren, von Voll- auf Teilzeit reduzieren, um wenigstens ein bisschen mehr Zeit für Frau, Sohn und sich selbst zu haben. Und man kann versuchen, wenigstens einen der wirklich vielen vergessenen Hinterhöfe dieser Stadt für das großstädtische Leben zurückzugewinnen.

Einst Parkplatz für Gabelstapler

„Mein“ Hinterhof in Gaisburg ist ein Überbleibsel mit Geschichte. Einst stand an dieser Stelle eine der ersten Tankstellen im Stuttgarter Osten. Es gibt noch vereinzelt Taxifahrer, die sich daran erinnern, dass sie vor Jahrzehnten dort immer zum Tanken fuhren und gleich auch ihren Wagen gewaschen haben. Später war hier der Sitz der Firma Küenle Antriebssysteme, die längst nach Hemmingen umgezogen ist, weil der Platz für das expandierende Unternehmen zu klein geworden war. Der Hinterhof war Lager und Parkplatz für Gabelstapler, begrenzt vom anstelle der Tankstelle errichteten Wohnhaus und an zwei Seiten von meterhohen Mauern.

Wie es in vielen einst von Firmen genutzten Hinterhöfen üblich war, gab es dort ein Alibibeet. Manche dieser Beete wurden tatsächlich gepflegt, auf anderen machten sich früher oder später Büsche und Unkraut breit. Auch im Gaisburger Hof gab es auf einem Streifen von geschätzten sechs mal einem Meter undurchdringliches großstädtisches Urwaldgestrüpp, unter dem sich bester, schwerer, lehmiger Boden verbarg. Nach einer Teilrodungsaktion – ein großer meterhoher Busch durfte bleiben, er ist seit Jahren ein beliebter Nistplatz für Spatzen – stellte sich die Frage: Was wächst da eigentlich? Die Sonne erreicht das Beet erst spät im Frühjahr, und ab Ende August, Anfang September senkt sich schon wieder der Schatten darauf. Aber – und das machte spekulativ Hoffnung: die hohe helle Mauer reflektiert das Sonnenlicht, heizt sich ordentlich auf und strahlt die Wärme nachts wieder ab.

Jeden Morgen frische Erdbeeren

Die Pflanzversuche waren erfolgreich, siehe oben. In den Sommermonaten macht der türkische Obst- und Gemüsehändler unseres Vertrauens in Gaisburg seit vergangenem Jahr deutlich weniger Umsatz mit uns, dafür verdient er im Frühjahr dazu, wenn er Tomaten-, Zucchini- oder Paprika-Pflanzen verkauft. Und obwohl unser Sohn, acht Jahre alt, Tomaten nicht ausstehen kann, topft er die zum Teil aus Samen selbst gezogenen Pflänzchen mit Begeisterung um. Genau so, wie er dieser Tage genussvoll jeden Morgen frisch geerntete Erdbeeren verdrückt.

Genug Wasser für Tomate und Co.

Die Versorgung ist also gesichert, und die ganze Nachbarschaft macht mit. Das erste Gewächshäuschen – es gab sie mal für 50 Euro bei Aldi – hatte die Neugierde geweckt, einer nach dem anderen fragte nach und ließ sich gern bei einer kleinen Hinterhofführung die Schätze zeigen. Der Nachbarschafts-Eckkneipe Schurwald, aus deren Küchenfenster man über die Mauer auf die Pflanzenpracht schauen kann, liefert die Hobbygärtnerei nicht nur immer wieder Gesprächsstoff, sondern ab und zu auch frische Minze für die Cocktails. Ums Gießen in Urlaubszeiten muss ich mir keine Sorgen machen. Im vergangenen Sommer kümmerten sich gleich drei Nachbarinnen und Freundinnen um genug Wasser für Tomate und Co., was fast schon an der Grenze zur Überversorgung war. Dafür gediehen zum Beispiel die Flaschentomaten so prächtig, dass das Stück fast 500 Gramm auf die Waage brachte. Auch für diese Sommerferien haben die Wirtin samt Tochter und Enkel ihr Gießkümmern schon wieder angeboten.

Diese Art städtisches Hinterhofgärtnern – hipper klingt: Urban Backyard Gardening – ist also ganz reales Nachbarschaftsnetzwerken mitten in der Stadt und funktioniert auch in virtuellen sozialen Netzwerken unter dem Namen Gaisburger Marsch. Letztens zum Beispiel verursachte eine Entdeckung bei mir gewisse Ratlosigkeit: Im Komposter war ein Ameisenvolk dabei, sich häuslich einzurichten. Das ist zwar für den Kompost gut, verhindert aber die Entnahme der nährstoffreichen Erde, weil dann der Ameisenbau zerstört würde. Sofort gab es online einige gute Ratschläge, die Ameisen durften bleiben. Noch spannender ist die Entdeckung von mir bisher unbekannten – und zum Teil unheimlichen – Insekten im Gewächshaus. Kaum waren die Fotos der unbekannten Flugobjekte ins Netz gestellt, schon gab es Identifizierungsversuche, etwa für Tanzfliegenarten oder Dickmaulrüssler. Unser Gaisburger Hinterhof ist also aus seinem Schattendasein zurück in das Großstadtleben geholt. Jetzt wartet der große, gepflasterte Hof . . .