Zwei demente Mütter hüten ein Familiengeheimnis aus der Nachkriegszeit. Diese beiden Romane über eine verdrängte Vergangenheit sind von sehr unterschiedlicher Qualität, findet unser Bestseller-Kolumnist.

Der Autor dieser Zeilen wollte es sich leicht machen. Vielleicht, so die Überlegung, könnte Künstliche Intelligenz die Kolumne schreiben. Der Auftrag an ChatGPT: „Schreibe eine Rezension zu ,Stay away from Gretchen‘ von Susanne Abel“. Nach 30 Sekunden kam die Antwort: „,Stay away from Gretchen‘ ist ein fesselnder psychologischer Thriller, der den Leser von der ersten bis zur letzten Seite in Atem hält. Die Geschichte wird aus der Perspektive von Anna erzählt, einer jungen Frau, die in Berlin lebt. Eines Tages trifft sie Gretchen, eine geheimnisvolle und faszinierende Frau, (. . .) die scheint ein dunkles Geheimnis zu haben.“

 

Klingt vielversprechend – hat aber nichts mit dem Buch von Susanne Abel („Spiegel“-Bestseller Taschenbuch Belletristik Platz 2, dtv, 544 Seiten, 13 Euro) zu tun. Darin geht es um „Kinder von deutschen Frauen und schwarzen amerikanischen Besatzungssoldaten in Deutschland nach 1945“. Täte ihm leid, antwortet ChatGPT, auch eine Künstliche Intelligenz dürfe sich ja wohl mal irren. Und haut eine neue Rezension raus: „In diesem Fall ist ,Stay away from Gretchen‘ von Susanne Abel ein Roman, der ein wichtiges und oft übersehenes Thema behandelt. Der Roman bietet einen Einblick in die historischen und sozialen Hintergründe dieser Zeit, und es ist wichtig, dass solche Geschichten erzählt werden, um unser Verständnis der Vergangenheit zu vertiefen und die Gegenwart zu reflektieren.“

Auf der Suche nach der verlorenen Schwester

Schon besser. Aber aus Phrasen zusammengestoppelt. Das könnte man über jeden Roman zu einem zeitgeschichtlichen Thema schreiben. Künstliche Intelligenz kann eben keine erfrischende, selbst recherchierte, empathische Geschichte erzählen jenseits des bereits hundertmal Gedachten und Geschriebenen. „Stay away from Gretchen“ steht jedoch deshalb seit gut 100 Wochen auf der Bestsellerliste, weil der Autorin genau das gelingt. Sie verdichtet Fragen von Vergessen und Verdrängung zur Biografie ihrer Protagonistin Greta Monderath. Diese Greta verbringt ihre Kinderjahre in Ostpreußen, begeistert sich als Jungmädel für Hitler, flieht im Winter 1945 vor den Russen nach Heidelberg. Dort lernt sie den schwarzen Besatzungssoldaten Bob kennen. Trotz Fraternisierungsverbot verlieben sich die beiden.

Fast 70 Jahre später lebt Greta in Köln, und ihr Sohn Tom, ein bekannter Fernsehmoderator, vermag die Anzeichen von Demenz bei seiner Mutter nicht mehr zu übersehen. Und so kommt, weil Greta vergisst, was sie über Jahrzehnte vergessen wollte, ans Licht: dass die Tochter, die sie von Bob bekommen hatte, ihr von einer noch immer rassistischen, von Nazis durchsetzten bundesdeutschen Bürokratie entrissen und in den USA zur Adoption freigegeben wurde. Tom macht sich auf die Suche nach seiner schwarzen Schwester, während er zugleich über das Schicksal der nach Deutschland geflohenen Menschen während der Flüchtlingskrise 2015 berichtet.

Manches kann KI noch lange nicht

Man muss ChatGPT für seine holprig formulierte Zusammenfassung recht geben: „Obwohl es kein Thriller ist, kann der Roman ein fesselndes Lesevergnügen bieten und den Leser dazu bringen, über die Komplexität von Rasse, Identität und Familie nachzudenken.“ Susanne Abel schafft aber noch mehr, weil sie ihre Geschichte sorgfältig recherchiert hat – und es ihr deshalb gelingt, den Rassismus in der frühen BRD als Resonanzraum für die Rassismusdebatte der Gegenwart zu nutzen.

Das ist umso beeindruckender, als die Bestsellerautorin Dora Heldt für ihren Roman „Drei Frauen und ein falsches Leben“ („Spiegel“-Bestseller Belletristik Paperback Platz 4, dtv, 512 Seiten, 17,95 Euro) ein ähnliches Gerüst nutzt: Friederikes Mutter Esther lebt demenzkrank im Pflegeheim. Auch sie scheint jahrzehntelang ein Familiengeheimnis aus der Nachkriegszeit verdrängt zu haben, bei dem es um ihre Tochter, eine Industriellenfamilie und Naziverstrickungen geht. Anders als bei Abel wirkt die Zeitgeschichte bei Heldt aufgesetzt, wie ein dramaturgischer Kunstgriff. In nicht allzu ferner Zukunft, so darf man vermuten, könnte ein Roman wie der von Dora Heldt von einer Künstlichen Intelligenz geschrieben werden. Für das Buch von Susanne Abel bedarf es noch lange einer menschlichen Autorin.