Das Erbe der Habsburger-Zeit, Sozialismus und Bürgerkrieg haben an der Grenze von Orient und Okzident Spuren hinterlassen. Diese Mischung zieht die feierfreudige Jugend der Welt nach Belgrad, hat die StZ-Autorin Christel Freitag festgestellt.

Belgrad - Flughafen Beograd. Die Maschine landet pünktlich, doch vor der Passkontrolle hat sich bereits eine lange Schlange gebildet. In der Empfangshalle wartet das Schriftstellerduo Jelena Volić und Christian Schünemann schon ungeduldig auf den Besuch aus Deutschland. Dann kann es endlich losgehen. 18 km bis zum Stadtzentrum. Autos, Busse und Lastwagen drängen stadteinwärts.

 

Der morgendliche Straßenverkehr ist eine Herausforderung. Besonders im Kreisverkehr, wo von fünf Seiten gleichzeitig der Verkehr jeweils zweispurig einmündet. Jelena Volić flucht und lästert mal auf Serbisch, mal auf Deutsch, vor allem dann, wenn sie die Spur wechseln will. Sie ist hier geboren und aufgewachsen und lehrt heute Neuere deutsche Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Belgrad. Christian Schünemann lebt zwar in Berlin, doch die serbische Hauptstadt zieht ihn geradezu magisch an. Jelena und Christian sind seit mehr als 25 Jahren befreundet. Im Frühjahr 2013 ist ihr erster gemeinsamer Kriminalroman „Kornblumenblau“ erschienen. Ein weiteres Buch um die Hauptfigur Milena Lukin, Expertin für internationales Strafrecht in Belgrad, ist bereits in Planung, und so treffen sich die beiden Autoren immer wieder zu Recherchetouren.

Die quirlige Professorin sitzt in Jeans und bequemen Sandalen am Steuer und kurvt an alten Prachtbauten und schmutzigen Gemäuern vorbei. Sie sucht verzweifelt einen Parkplatz und landet schließlich in einer kleinen Straße ganz in der Nähe des Bahnhofs. Einen echten Stellplatz findet sie zwar nicht, aber in Belgrad herrschen eigene Gesetze. Da parkt Jelena auch schon mal in zweiter Reihe mit Warnblinkanlage, um ihren Besuchern die versteckten schönen, aber auch unübersehbar hässlichen Ecken der Stadt zu zeigen. Der imposante Hauptbahnhof etwa ist im neoklassizistischen k.u.k.-Stil gebaut und soll seit Jahren umgebaut und renoviert werden. Doch nichts passiert! Das Viertel rund um den Bahnhof verlottert, die kleinen Geschäfte verschwinden.

Mitten im Niedergang eine kleine, feine Pralinenwerkstatt

Überall verschlossene Gitter in der ehemals beliebten Geschäftsstraße Balkanska. Handgeschriebene Zettel an den Ladentüren künden vom unwiderruflichen Ende eines Ladens. Der Schumacher, der Hutmacher und die Kosmetikerin mit ihren handgemachten Salben und Wässerchen sind bereits verschwunden. Umso erstaunlicher, dass es die kleine Pralinenwerkstatt geschafft hat. Die Chefin, eine ehemalige Juristin, hat in Belgien die hohe Kunst der Pralinenmacherei gelernt. Im gekühlten Verkaufsraum gibt es Konfekt mit Chili, Pfeffer, Ingwer, Rosen, Zimt und grünem Tee. Jelena schimpft zwar über die Kalorien, kann aber keiner süßen Versuchung widerstehen: „Das war genau das, was Belgrad brauchte: Was Schönes, was mit Liebe gefüllt und mit Zärtlichkeit gemacht ist. Ein Volltreffer!“

Jelena hat die Qual der Wahl unter mehr als fünfzig Pralinensorten. Mit einem Hauch Bitterschokolade auf der Zunge und einer Tüte cremiger Köstlichkeiten fährt sie zum bekanntesten Belgrader Treffpunkt, dem Terazije-Platz. Überraschenderweise findet sie eine echte Parkbucht.

Die Journalisten vom Terazije

Terazije ist der wohl einzige Platz der Stadt, der seinen türkisch klingenden Namen jahrhundertelang behalten hat. Hier trifft man sich, hier logieren Geschäftsleute und Politiker im altehrwürdigen Hotel Moskva. Das noble Jugendstilgebäude glänzt mit grün glasierten Ziegeln weithin sichtbar neben schmucklosen Plattenbauten. Gegenüber im achten Stock eines unauffälligen, ja langweiligen Hochhauses tagen Schriftsteller, Künstler und Journalisten. In den unteren Etagen logiert die Industrie- und Handelskammer sowie die Agentur für Privatisierung. Dazwischen die Räume des „Novi Magazin“, eines politischen Wochenmagazins. Und ganz oben – quasi unterm Dach – das Restaurant Caruso.

Von der zu beiden Seiten offenen Terrasse genießt man einen herrlichen Ausblick auf die Stadt. Im milchig-trüben Licht wirkt Belgrad wie ein chaotisches Sammelsurium, von durcheinander gewürfelten, faden, sozialistischen Gebäuden und dunkelgrauen Prunk- und Prachtbauten vergangener Jahrhunderte, Kirchtürmen und einzelnen Hochhäusern.

Die Schattenseiten der Privatisierung

Im Restaurant ist immer ein Tisch für Nadezda Gace, die Chefredakteurin des „Novi Magazin“, und ihre Journalisten reserviert. Kulturelle, wirtschaftliche,politische Themen werden bei serbischen Spezialitäten diskutiert. Zu gegrillter Hühnerbrust und weich gekochtem Gemüse serbischer Art kredenzen die Kellner einen trockenen Rotwein aus Dalmatien. In Nadezda Gaces Tischrunde ist Jelena Volic ein gern gesehener Gast. Sie kennt sich aus in der deutschen und serbischen Zeitungswelt: „In Deutschland weiß man genau, wo welche berühmten oder profilierten Medien stehen. Hier ist die Lage anders. Die Medien waren staatlich gesteuert. Die Idee war, wenn man die Medien privatisiert, dann werden die frei. Ja, Pustekuchen! Wenn man die Medien privatisiert, dann berichten die das, was die Besitzer wollen.“ Nicht so die freien Publizisten des „Novi Magazin“! Sie kämpfen Woche für Woche trotz aller finanziellen Schwierigkeiten um eine unabhängige Zeitung.

Zwischen Billig-Shops und schönen Resten

Vom zigarettenvernebelten Redaktionstisch im Caruso sind es nur wenige Minuten bis in Belgrads Fußgängerzone. Die Knez-Mihailova-Straße, also die Fürst Michael-Straße, ist Belgrads Haupteinkaufsstraße. Der Filmregisseur Zoran Solumun ist in Belgrad zur Schule gegangen und hat hier an der Filmakademie studiert. Er erinnert sich gut an die Einkaufsmeile vor dreißig, vierzig Jahren. Damals war sie neu und modern. Es gab viele teure, exklusive Läden, Cafés und Restaurants. Frustriert kommentiert Zoran die aktuellen Veränderungen: „Wenn man heute diese Straße sieht, dann sieht man, wie viele Läden geschlossen sind, wie viele Läden da sind, in denen man diese chinesischen, billigen Waren kaufen kann.“ Begeistert erzählt er von den exquisiten Antiquariaten, den altertümlichen Porzellangeschäften und unzeitgemäßen Barbierläden. Stattdessen Handyshops und international bekannte Modeketten. Gelangweilte Verkäuferinnen sortieren billige Hosen und T-Shirts bei ohrenbetäubend wummernder Popmusik.

Zur Stärkung gibt es in kleinen, offenen Verkaufsbuden Popcorn und Coffee-to-go. Die westliche Kaffeekultur hat auch Belgrad erwischt: Cappuccino, Mokka oder Latte, alles im Becher. Aber es geht auch anders. Christian Schünemann streift mit Notizbuch und Fotoapparat durch Belgrads Hauptgeschäftsmeile. Er sucht nach gemütlich-altmodischen Cafés für Milenas nächsten Fall. Seine sympathische Heldin liebt Kuchen über alles und gönnt sich gern eine süße Denkpause.

Ein Krieg, den niemand verstanden hat

Kein Wunder, steht doch ihr Schreibtisch im einzigen nicht restaurierten Gebäude in diesem Fußgängerareal. Das Institut für Kriminalistik und Kriminologie ist ein bemerkenswerter Schandfleck: eine graubraune, rissige Fassade mit einem Eckturm und einer verrosteten Kuppel obendrauf, außerdem verwitterte, verklemmte Holzrollos vor verdreckten Fensterscheiben. Im Café Mali Prince dagegen vergisst Milena ihre ungeklärten Mordfälle und sticht beherzt in die fingerdicke Schokoladenglasur einer Konstantinopelschnitte. Die „Neue Lilly“, eine Art Blätterteig mit Vanillecreme, Himbeeren und Schokostückchen, landet auf dem Kuchenteller ihres Erfinders Christian Schünemann.

Der Filmemacher Solumun hat sein Belgrad in den neunziger Jahren kurz vor dem Krieg verlassen und arbeitet heute in Berlin, Sarajewo und Budapest. Trotzdem besucht er immer wieder für mehrere Wochen die alte Heimat. Während der Nato-Luftangriffe hat er täglich mit seiner Familie und seinen serbischen Freunden telefoniert. „Das war eine richtige Science-fiction-Situation. Das war ein Krieg, den keiner so richtig verstanden hat.“

Junge Künstler, alte Kneipen

Das Verteidigungsministerium ist noch immer eine gespenstische Ruine, aus der Bäume wachsen. Auch die ehemaligen Fernsehstudios sind zerstört. Wie bei einem Puppenhaus fehlen an zwei Seitenflügeln die Wände. Die Redaktionsräume auf den einzelnen Etagen sind ausgebrannte Löcher. Zoran Solumun hat einmal in diesen Büros gearbeitet und reagiert noch immer sehr empfindlich, wenn er über die Bombardierungen und ihre Folgen sinniert: „Belgrad hat sich provinzialisiert. Dieses lebendige Kulturleben, diese starken Theaterfestivals, Musikfestivals, Filmfestivals – das gibt es nicht mehr. Was heute in Belgrad neu und interessant ist, sind diese Clubs für junge Leute. Durch den Krieg, durch die Boykottmaßnahmen, damals während der Milosevic-Ära, ist Belgrad wirklich zu einer Provinzstadt geworden.“

Belgrad kandidiert als Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2020. Alte verlassene, halb verfallene Fabrikgebäude an der Save werden neu belebt. In den ehemaligen Lagerhallen einer Kleiderfabrik haben sich junge Künstler mit ihren Leinwänden, Farbtöpfen und Pinseln provisorisch eingerichtet. Sie malen mietfrei und zahlen lediglich Strom und Heizung. Isidora, Andrea, Milos und Marina fühlen sich wohl hier. Sie haben in Moskau, Amsterdam und New York studiert und träumen von einem neuen Soho Belgrad. Die Stimmung ist ausgelassen, man diskutiert, pinselt, trinkt und feiert, auch wenn sich die Bilder und Skulpturen nur schwer verkaufen lassen. Milos jobbt mal hier, mal dort, um ein wenig Geld zu verdienen. Andrea hat immerhin einen Kunden für eines ihrer großformatigen Frauenporträts à la Rembrandt gefunden. Sie liebt ihren Arbeitsplatz in der schmuddelig, grauen Halle, und sie liebt Belgrad. „Belgrad hat ein wahnsinniges Nachtleben. Wenn du jung bist in Belgrad, dann wirst du Spaß haben. Es ist großartig.“

Wenn es Nacht wird im Silikon Valley

Im ehemaligen Romaviertel Skardarlija trifft sich Jung und Alt, flanieren Einheimische und Touristen. Hier haben schon im 19. Jahrhundert Maler, Schriftsteller und Schauspieler gesessen, getrunken und gesungen. Der berühmte serbische Dichter und Maler ĐDura Jaksicć empfängt heute als Bronzestatue die Gäste in seinem kleinen Haus in der Skardarska 34. Es wird als Kleinkunstbühne genutzt. Im „Montmartre von Belgrad“ reiht sich ein Restaurant an das andere. Im Gasthaus Tri sesira, einer ehemaligen Hutmacherwerkstatt, sind die holzvertäfelten Gasträume gemütlich, die Decken niedrig. Es ist warm, voll und laut. Hier gibt es regelmäßig serbische Volks- und Zigeunermusik. Die Musiker gehen von Tisch zu Tisch und betören alte und junge Damen.

Wem das zu old fashioned klingt, durchstreift die angesagte Ausgehmeile Strahinjica-Bana im Stadtzentrum. Am besten in High Heels und ultrakurzen Jeans. Mit Anbruch der Dunkelheit wird es lebendig im sogenannten Silikon Valley. Man zeigt, was man hat: den Busen, die Beine, die Muskeln und das aufgemotzte Auto. Hier geht es ums Sehen und Gesehen werden! Die Tanzwütigen dagegen zieht es hinunter zu den Flüssen. Auf Save und Donau gibt es jede Menge schwimmender Discotheken. Die Clubszene lebt. „Wir treffen uns beim Pferd“, heißt es unter den Eingeweihten. Gemeint ist das Reiterstandbild von Fürst Mihailo auf dem Platz der Republik.

„Wie in Berlin nach dem Mauerfall

Auch westliche Backpacker kennen mittlerweile diesen Sammelpunkt. Die 25-jährige Studentin Franziska aus Berlin ist total begeistert. „Das ist ne roughe Stadt. Ziemlich viel ist runter gekommen, aber das macht es halt so geil. Wie Berlin in den Neunzigern nach dem Mauerfall.“ Verlassene Industriegebäude sind zu Bars, Cafés und Clubs umfunktioniert. Auf den Hausbooten am linken Saveufer wird aufgelegt: Drum’n’Bass, Industrial, Electro, Rock. Der Schweiß fließt in Strömen. Bier und Wein gibt es im 24-Stunden-Supermarkt um die Ecke.

Doch irgendwann wird es draußen einfach hell, und die tanzenden Lichtkegel zwischen den Hausbooten verschwinden. Belgrads Festung Kalemegdan dämmert im Morgenlicht. Franziska hat die Nacht durchgemacht: „Man findet auf jeden Fall Leute, mit denen man ne Nacht verbringen kann. Man kann morgens noch an der Save sitzen, sieht die Sonne aufgehen und hat den Blick auf die Festung. Es ist echt cool!“

Mit dem Fluss strömen die Jahrhunderte

Die Tram ruckelt bereits wieder zum Kalemegdan, der jahrhundertealten Grenze zwischen Orient und Okzident. Am anderen Flussufer erwacht auch Neo Beograd, ein modernes Geschäftsviertel mit Banken, Autosalons und Luxushotels. Für die alte Zeit dagegen steht der sogenannte Sieger. Am höchsten Punkt der Festung wacht der Bote der Freiheit und blickt gen Österreich-Ungarn, in der Linken einen Falken, in der Rechten ein gesenktes Schwert.

Jelena Volic kennt diesen Platz seit ihrer Kindheit. Auch ihre Romanheldin Milena Lukin sitzt gern zu Füßen des nackten Siegers: „Von keinem Ort der Festung war besser zu sehen, wie die Donau in einem majestätischen Bogen aus Ungarn kam, sich mit der Save vereinigt und ihre Reise nach Rumänien und weiter ins Schwarze Meer fortsetzte. Wenn Milena hier saß und auf den Fluss hinunterschaute, kam es ihr vor, als würde sie Dinge verstehen, die sonst nicht verstand, und Zusammenhänge erkennen, die sie sonst nicht sah. Dann strömten mit dem Fluss gleichsam die Jahrzehnte und Jahrhunderte dahin, die Epochen, in denen Kriege geführt und Grenzen verschoben wurden, Kulturen ihre Blütezeit hatten oder untergingen“.