Viele Kinder von Schaustellern reisen mit ihren Eltern von Festlatz zu Festplatz – und wechseln deshalb dauernd die Schule. Beim Cannstatter Volksfest lernen sie erstmals alle zusammen. Ein Beispiel, das Schule machen soll.

Stuttgart - Unscheinbar ist die Tür. Verborgen für Unwissende. Versteckt in einer langen mit Graffiti besudelten Betonwand am Rande des Wasens. Doch wer sie öffnet, betritt eine andere Welt. Draußen drehen sich die Karussells, werben die Rekommandeure an den Losbuden um Kunden, wirbeln Musikfetzen umher, nimmt der Rummel Fahrt auf. Hier drinnen sitzen gut 30 Kinder an Tischen, stecken die Köpfe in Bücher und Laptops, arbeiten in einem Seminar über den „Freischütz“, lernen lesen oder Winkel zu berechnen. Willkommen in der Wasenschule.

 

Mittendrin ist Michael Widmann, er ist Bereichslehrer für Kinder und Jugendliche von beruflich Reisenden. So heißt das offiziell. Gemeint sind die Kinder von Schaustellern, Artisten und Zirkusleuten. Oder fahrendes Volk, wie man sich selbstironisch nennt. Es gibt auch die bösartige Variante davon. „Zigeuner!“ Das hören die Kinder von Niccolo Weiß oft, wenn sie in eine neue Schule kommen. Sie stammen aus Thüringen, reisen fast das ganze Jahr. Auf gut und gerne 30 verschiedene Schulen sehen Giordano (13), Giorgio (10) und Giulia (7) im Jahr. Zwar bekommen sie von ihrer Heimatschule ein Tagebuch mit, also Aufgaben, die sie abarbeiten sollen. „Doch meine Kinder sind nur eine Woche da, die Lehrer haben mit ihren Schülern genug zu tun“, sagt Weiß. Also bekämen sie ein Blatt Papier und Stifte in die Hand gedrückt zum Malen. Schlimmer aber noch sei, dass die Kinder stets aufs Neue Außenseiter seien. „Wir sind immer die Schausteller-Deppen.“ Die Kinder werden gehänselt, wehren sich und werden so erst recht zu Außenseitern. In der Wasenschule sind sie unter sich und werden gefördert. Mit erstaunlichem Ergebnis. Weiß: „Am dritten Tag hier haben meine Kinder mich geweckt und gesagt: Aufstehen, wir wollen in die Schule!“

Langer Kampf für die Wasenschule

So hatten sich das die Schausteller gewünscht, die seit Jahren für die Wasenschule gekämpft haben. Viele schicken ihr Kind ins Internat. Doch das ist teuer. Nicht jeder kann sich das leisten. Und nicht jeder will seine Kinder nur in den Ferien sehen. Also reist der Nachwuchs mit von Festplatz zu Festplatz. Und geht auf die Schulen am Ort. Die Kinder vom Wasen wurden bisher in fünf Cannstatter Schulen unterrichtet.

Nun sind sie alle zusammen in der Wasenschule, offiziell eine Außenstelle der Eichendorffschule. Gemeinsam mit den Schaustellerpfarrern hatte sich Widmann für diese im Land einmalige Lösung eingesetzt. Die Feuerwehr überließ der Schule einen Raum, und „wir haben Gott sei Dank das Wohlwollen des Kultusministeriums“.

So kommen auch andere Bereichslehrer aus Baden-Württemberg nach Stuttgart, um die 30 Kinder im Alter von sechs bis 16 Jahren zu unterrichten. „Eine Kollegin übernachtet hier in der Jugendherberge“, sagt Widmann, eine andere steht morgens um 5 Uhr in Wildbad auf, um pünktlich in der Schule zu sein. Mit dabei sind zwei Studenten der Pädagogischen Hochschule und verschiedene pensionierte Lehrer, insgesamt sind sie acht ehrenamtliche Helfer.

Schausteller legen Wert auf Bildung

„Es ist unglaublich, was wir hier für einen Schatz an Wissen haben“, sagt Widmann. So hatten die Lehrer aus Thüringen ihren Schülern aufgetragen, eine Hausarbeit über die Oper „Freischütz“ von Carl Maria von Weber zu schreiben. Einer der Pensionäre war Musiklehrer und ist Instrumentenbauer. Er brachte seine Klarinette mit, spielte Stücke vor. Am Ende waren die Kinder so begeistert, dass sie unbedingt in die Oper gehen möchten. „Das ist ein sehr individuelles Lernen“, sagt Widmann, „jeder sitzt in der ersten Reihe.“

Früher, da schien Bildung Nebensache in der Branche. Da war wichtig, dass die Kinder Saltos schlagen, Karussells reparieren oder Laster fahren konnten. Goethe rezitieren und Logarithmen rechnen, brauchte man selten im Zirkuszelt und auf Festplätzen. Das hat sich geändert. Es gibt zu viele Schausteller, nicht jeder wird das Geschäft seiner Eltern übernehmen und davon leben können. Und wenn, wird er mit Hemdsärmeligkeit nicht weiterkommen. Zu leicht verheddert man sich sonst zwischen all den Verordnungen und Vorgaben von Finanzamt, TÜV, Gewerbeamt oder Lebensmittelkontrolleuren.

„Ich hatte an einem Zirkus ein richtig gescheites Mädchen“, erinnert sich Widmann, „da musste ich die Eltern überzeugen, dass sie Abitur machen darf.“ Mit Erfolg. Heute ist sie Juristin. Und sitzt im Urlaub immer noch an der Zirkuskasse.

Widmann reiste einst vier Jahre lang als Pädagoge mit dem Circus Krone, unterrichtete zwölf Kinder in einem Schulwagen. So könnte er sich durchaus vorstellen, wieder auf Reisen zu gehen. Die Schausteller haben bei der Firma Mack ein Wohnmobil besorgt, ausgebaut als Klassenzimmer. In Hessen und Nordrhein-Westfalen gibt es eine solche fahrende Schule bereits, sie kommt auf die größeren Festplätze.

Im Kultusministerium prüft man derzeit, ob dies auch im Land möglich wäre. Die 13 Jahre alte Lisa wünscht sich das sehnlichst. „Die Schulwechsel sind nicht schön“, sagt sie, „hier sind wir zusammen und bekommen alles erklärt, bis wir es verstehen.“

Dann schlägt es 12 Uhr. Die Schule ist zu Ende. Draußen erwacht der Rummel.