Zu große Gruppen, zu viel Stress: Kinder leiden in schlechten Krippen unter gesundheitlichen Problemen, die sich auch langfristig auswirken.
Bielefeld - Ab 2013 haben einjährige Kinder einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz. Ob die Kapazitäten reichen und das notwendige Personal bis dahin zur Verfügung steht, ist die eine Frage. Für Kinderärzte stellt sich vor allem eine andere: Wie wirkt sich die frühkindliche Gruppenbetreuung auf die Entwicklung und Gesundheit von Kindern aus?
Ihre Antwort auf der diesjährigen Jahrestagung in Bielefeld klingt alarmierend. Nur zwei Prozent der Krippen in Deutschland seien von hoher Qualität, zwei Drittel Mittelklasse, ein Drittel dümpele gar im Bereich "geringer Standard", kritisiert Rainer Böhm, Ärztlicher Leiter des sozialpädiatrischen Zentrums am Evangelischen Krankenhaus Bielefeld. Aus kindlicher Sicht seien deshalb "in der Tendenz leicht negative und keine positiven Effekte zu erwarten".
Ergebnissen der amerikanischen NICHD-Studie zufolge, der bislang umfassendsten Datensammlung zum Thema kindliche Fremdbetreuung, konnten langfristige kognitive Effekte aber nur bei hochwertiger Betreuungsqualität nachgewiesen werden. Allerdings stoße auch das Qualitätskriterium an seine Grenzen, erinnert Böhm: Je mehr Stunden die Kinder in einer Einrichtung verbrachten, desto stärker zeigten sie später ein sozial abweichendes Verhalten wie Streiten, Kämpfen, Sachbeschädigungen, Prahlen, Lügen, Schikanieren. Bei 15-Jährigen, das zeigt die jüngste, in "Child Development" veröffentlichte Analyse der NICHD-Daten, verschoben sich die kindlichen Auffälligkeiten zu vermehrt impulsivem und risikoreichem Verhalten hinsichtlich Alkohol, Waffen, Rauchen, Drogen, Stehlen und Vandalismus.
Krippenstress wirkt sich auf spätere Entwicklungsstufen aus
Dass Krippenstress eine Ursache ist, scheint inzwischen gut belegt. So zeigen erste Ergebnisse der Wiener Krippenstudie vor allem für unter zweijährige Kinder deutlich ungünstige veränderte Tagesprofile des Stresshormons Cortisol. "Selbst gut ausgestattete Krippen können den stresspuffernden Effekt der familiären Umgebung in der Regel nicht ersetzen", betont Rainer Böhm.
Mit dieser frühkindlichen Stressbelastung gehen nicht nur spätere psychische Entwicklungsstörungen einher, sondern auch Adipositas und koronare Herzerkrankungen. Düsseldorfer Dermatologen veröffentlichten zudem im Frühjahr eine Studie in "Allergy", wonach sich auch Neurodermitis bei früher Krippenbetreuung deutlich häufiger entwickelte.
"Hoher Stress in der frühen Kindheit prägt langfristig", unterstreicht die Hamburger Kinder- und Jugendpsychiaterin Carola Bindt. Stressoren für Säuglinge unter sechs Monaten seien etwa eine Blutentnahme oder Impfung, bei Kindern unter 18 Monaten sei es vor allem die vorübergehende Trennung von der Bindungsperson. Gruppengröße, Anzahl der Bezugspersonen, Kinderzahl, Platzverhältnisse und Betreuungsdauer wirken sich auf den Cortisolspiegel und damit den Stresslevel der Kinder in der Krippe aus, referiert Bindt. Vor der Annahme, "scheinbar unauffällige, pflegeleichte Kinder" kämen mit der Krippensituation gut zurecht, warnt die Hamburger Psychologin Ann Katrin Scheerer: "Auch das Protestverhalten gegen die Trennung muss erst reifen."
Eine Betreuerin für höchstens zwei Babys
NICHD-Autor Jay Belsky von der Universität London gibt zu bedenken, dass die leichten kognitiven Vorteile bei Kindern aus qualitativ hochwertigen Betreuungseinrichtungen auch Folge familiärer Einflüsse sein können. Fakt sei jedenfalls, dass "immer mehr Kinder in immer jüngeren Jahren in Einrichtungen von fragwürdiger Qualität" betreut würden.
Da aber kleine Effekte - positive wie negative - bei vielen Kindern für die Gesellschaft größere Konsequenzen nach sich ziehen könnten als große Effekt bei einigen wenigen, sei die Politik gefordert. Belsky fordert längere Erziehungszeiten, echte Wahlfreiheit der Eltern bei der Kinderbetreuung ohne wirtschaftliche Zwänge und verbindlich hohe Krippenstandards.
Die deutschen Kinderärzte fordern seit Jahren für Säuglinge unter einem Jahr einen Betreuungsschlüssel von eins zu zwei: eine Betreuerin soll sich höchstens um zwei Babys kümmern. Für Ein- bis Zweijährige sollten es maximal drei, für Zwei- bis Dreijährige vier Kinder je Betreuerin sein.