Betroffene Schüler aus Stuttgart berichten Viele Flüchtlinge müssen weiter ohne WLAN lernen

Die Stadtbibliothek fehlt den Flüchtlingen als Raum zum Lernen mit Internet. Foto: dpa/Philip Schwarz

In Stuttgarter Flüchtlingsunterkünften mangelt es an Internetverbindungen. Betroffene Schüler berichten, wie sich das für sie auswirkt.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Moawiya Nawaf Hasan ist verzweifelt. „Meine Noten waren gut“, sagt der 22-Jährige, der das Berufskolleg besucht. Doch nun bangt er um seinen Abschluss. Seit der Schulschließung im Dezember habe er an keiner digitalen Unterrichtseinheit teilnehmen können. Der Grund: In der Flüchtlingsunterkunft in der Quellenstraße in Bad Cannstatt, in der er, seine Eltern und die fünf Geschwister leben, gibt es kein WLAN. „Da sind nicht einmal Internetleitungen“, sagt er. Das Material bekomme er per Mail. Wenn er Glück hat, ist das Büro des Sozialarbeiters noch besetzt, und er kann es am gleichen Tag ausdrucken.

 

Auch seine Geschwister seien abgehängt. Sein ältester Bruder studiert an der Uni Heidelberg, seine Schwester geht ebenfalls aufs Berufskolleg, die übrigen Brüder seien in der Schule, zwei auf dem Gymnasium. „Keiner von uns kann am Online-Unterricht teilnehmen“, sagt Moawiya Nawaf Hasan. Sie hätten es probiert, sich mit dem Handy einzuwählen, aber die Verbindung sei zu schlecht. Ohnehin mache es die Enge schwer, sich zu konzentrieren. „Unsere Nachbarn haben kleine Kinder, die sind sehr laut“, sagt er. Normalerweise passe er im Unterricht auf und gehe in die Bibliothek zum Lernen. „Doch die hat auch geschlossen.“

28 Gemeinschaftsunterkünfte ohne WLAN

Moawiya Nawaf Hasan und seine Geschwister sind bei weitem kein Einzelfall. Das WLAN-Problem wird immer wieder von Flüchtlingsfreundeskreisen und Ehrenamtlichen bemängelt, auch Asylpfarrer Joachim Schlecht begegnet dem Problem regelmäßig, im September hatte er einen Hilferuf an die Sozialbürgermeisterin mit abgesetzt. „Ich finde es traurig, dass immer noch nichts passiert ist“, sagt Schlecht. Es treffe die, die sich besonders um Integration bemühen.

Wenn es in Unterkünften WLAN gibt, dann haben ehrenamtlich Engagierte und Freundeskreise dies ermöglicht, wie in Sillenbuch in der Kirchheimer Straße, wo mehrere Gebäude versorgt werden. Von insgesamt 53 Gemeinschaftsunterkünften verfügen nach Kenntnis des Sozialamts 25 über einen solchen Internetzugang. Die Mehrheit der Fraktionen hat schon vor Monaten Abhilfe gefordert. Und die soll kommen. Auch bei der Stadt ist man auf der Suche nach Lösungen. Derzeit prüften Sozialamt und Schulverwaltungsamt, inwieweit durch die Bereitstellung von mobilen LTE-Routern für Familien in den Unterkünften kurzfristig WLAN bereitgestellt werden könne, so eine Sprecherin der Stadt.

Ziel sei, dass „auch Kinder ohne Internetzugang mit den über die Schulen bereitgestellten iPads am Homeschooling teilnehmen können“. Die offenen Fragen sollten „zeitnah“ geklärt werden. Beim Thema stationäres WLAN ist man noch dabei, rechtliche finanzielle Fragen ämterübergreifend zu klären.

Übers Handy der Mutter versuchen die Brüder, am Digitalunterricht teilzunehmen

Der Fünftklässler Sabri und seine Geschwister finden die Situation frustrierend. Die Familie aus dem Irak wohnt in einer Unterkunft in Untertürkheim. Sie nutzten das Handy der Mutter als Hotspot, berichtet der Zwölfjährige, der eine Gemeinschaftsschule besucht. Damit versuchten er und sein zwei Jahre älterer Bruder im gemeinsamen Zimmer zeitgleich ihren jeweiligen Online-Unterricht zu verfolgen. Die Verbindung sei viel zu schwach. Sie flögen aus der Leitung oder verstünden nicht, was gesprochen wird. Schwierig sei es zudem ohne Drucker. Er müsse die Arbeitsblätter immer abschreiben, was mühsam sei.

„Es wäre sinnvoll, wenn jeder auf dem Zimmer die Möglichkeit hätte, ins Internet zu gehen“, fordert auch der Ehrenamtliche Werner Lächner. Er hilft Flüchtlingen in zwei Feuerbacher Unterkünften bei den Hausaufgaben. In der Krailenshaldenstraße betreut er den Lernraum mit, ein Vorzeigeprojekt der Stadt. Dort gibt es vier Laptops mit Internetanschluss. „Der Lernraum ist ein Anfang“, sagt er, es werde aber nur ein Bruchteil der Kinder aus der Unterkunft erreicht. Seit den Schulschließungen sei der Bedarf gestiegen, die Lücken seien größer geworden. Manchmal wundert er sich auch über das Material, das die Kinder mitbringen. „Wie sollen sie das verstehen?“, fragt sich der Rentner.

Das WLAN im Gemeinschaftsraum wurde abgeschaltet

In der Unterkunft in der Wiener Straße betreut Lächner eine Jesidin, die die Abendrealschule besucht. „Sie geht zu Verwandten in die Wohnung, weil sie dort WLAN hat.“ In Ruhe lernen könne sie da nicht – „und man sollte doch Kontakte vermeiden“, sagt er.

Der Freundeskreis hatte im Gemeinschaftsraum WLAN finanziert, aber weil sich dort zu viele aufhielten, habe es die Hausleitung wegen Corona abgeschaltet. Auch Lächner nennt die Stadtbibliothek als Alternative, die vielen, die er kennt, fehle. „Es wird ihnen gerade die Möglichkeit genommen, sich zu integrieren“, warnt der Ehrenamtliche.

Lernräume
Seit Sommer 2020 arbeitet die Abteilung Stuttgarter Bildungspartnerschaft mit dem Sozialamt an der Etablierung von Lernräumen in Flüchtlingsunterkünften. Im September startete in der Krailenshaldenstraße in Feuerbach der erste, im Oktober folgte der Lernraum in der Kurt-Schumacher-Straße in Möhringen. Die Rudolf-Schmid-und-Hermann-Schmid-Stiftung ermöglichte zwei weitere Lernräume: Am 1. Dezember startete ein Raum in Stammheim, am 1. Februar wurde nun der vierte Lernraum in der Helene-Pfleiderer-Straße in Degerloch eröffnet.

Konzept
Die Lernräume bieten nicht nur die nötige Technik, sie werden auch hauptamtlich betreut. Diese sollen „die Bedarfe vor Ort ermitteln und entsprechende Lernangebote vor Ort für die Kinder und Jugendliche koordinieren und ermöglichen“, so eine Sprecherin. Das Ziel: bessere Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen in Gemeinschaftsunterkünften zu ermöglichen.

Mobil
Noch im Frühjahr soll ein mobiler Lernraum starten und Flüchtlingsunterkünfte und Sozialunterkünfte anfahren. Das Lernmobil soll zeitgleich von sechs Schülerinnen und Schülern genutzt werden können. Auch hier wird eine pädagogische Fachkraft vor Ort sein.

Kritik
Asylpfarrer Joachim Schlecht ist zwar „froh über die Lernräume“, sagt aber auch, dass nur wenige Kinder davon profitierten – und man auch an die Erwachsenen denken müsste, die zum Beispiel einen Deutschkurs machen.

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