Die Serie „Better Call Saul“ bei Netflix um einen windigen Anwalt und seine Kollegin ist mit Abschluss der sechsten Staffel komplett. Besser wird man nirgends unterhalten.

Jimmy McGill ist ein Meister des umgarnenden Argumentierens – und ein Abzocker. McGill ist ein Anwalt, dessen Herz für die Gerechtigkeit brennt, für faire Chancen für arme Leute in einem System, das meist von Geld verbogen wird. Und er ist ein Gierschlund, der fremdes Leid in Kauf nimmt, wenn der Gewinn hoch genug ist. McGill ist ein vom Schicksal seiner Klienten tatsächlich anrührbarer Anwalt in einer Welt kaltschnäuziger Fallabwickler. McGill ist ein so gerissener Heuchler, Faxenmacher und Wertevortäuscher, dass er selbst nicht mehr weiß, wann er mit Rattigkeit bloß seine Verwundbarkeit schützt und wann er schluchzt und heult, um andere in der Tränenpfütze ausrutschen zu lassen.

 

Aber Vorsicht: Jimmy McGill, Hauptfigur der nun zum Abschluss gekommenen Serie „Better Call Saul“, ist nicht für die einen Menschen dies, für die anderen jenes. Das wäre das ganz normale Blickverzerrungsspektrum bei der Beurteilung eines Charakters. McGill ist auch nicht, unter dem Druck der Umstände und im Schwanken des emotionalen Gezeitenhubs, mal das eine, mal das andere. Er ist immer alles gleichzeitig.

Ein fragwürdiger Start

Das macht den von Bob Odenkirk gespielten Anwalt zu einer Figur, von der man auch nach sechs Staffeln noch lange nicht genug hat. Dabei hatte dieser eloquente Ritter der Gerechtigkeit, durchtriebene Schaumschläger in tausend Klemmen und findige Nothelfer von Schwerverbrechern einen schwierigen Start. Nicht nur als Figur innerhalb seiner fiktionalen Welt, als kleinkrimineller Späteinsteiger ins Rechtssystem, der sich von der Häftlingsseite der Gitter auf die Seite der Anwälte kämpfte.

Nein, Jimmy McGill schien deshalb anfangs eine fragwürdige Figur, weil „Better Call Saul“ 2015 als Spin-off einer der meistgepriesenen Serien überhaupt an den Start ging. Man hat McGill unter seinem Pseudonym Saul Goodman 2009 in der zweiten Staffel von „Breaking Bad“ kennengelernt, jener Serie um einen todkranken, zum Drogenkönig mutierten Highschool-Lehrer, die zum Inbegriff des neuen Erzählens wurde, des Aufrückens der Serien zu den ganz großen Erzählungen der Moderne.

Vom Drogenkoch zum Hallodri

„Breaking Bad“, entwickelt vom Autor Vince Gilligan, war einerseits funkelndes Symbol dessen, was bei Kabelanbietern und Streamingdiensten nun möglich war. Andererseits priesen die Fans ja gerade die Originalität, die Konsequenz, die haarsträubend feine Balance der Serie zwischen Tragik und Komik. Sprich, als nach dem Ende von „Breaking Bad“ das Prequel „Better Call Saul“ angekündigt wurde, zentriert um eine der Nebenfiguren, nicht eine der Hauptfiguren des Originals, da schien das vielen eher Verrat als Verheißung zu sein.

Tatsächlich haben zahlreiche „Breaking Bad“-Fans dann die erste Staffel dieser beim US-Kabelsender AMC produzierten, bei uns von Netflix angebotenen Serie gar nicht erst eingeschaltet. Wie sollte dieser zappelige, schrille, windige, ölige, umherglitschende Hallodri McGill eine von Seelenpein, Höllenfeuer, Visionärstragik und Weltreichgründercharisma umflackerte Figur wie den von Bryan Cranston gespielten Drogenkoch Walter White jemals ersetzen können?

Mit zwei Worten ist alles gesagt

Von der ersten Folge der ersten Staffel an aber zerstreuten Vince Gilligan, sein Co-Autor Peter Gould und alle Beteiligten die Befürchtung, hier werde uninspiriertes Auswringen einst frischer Ideen betrieben. „Better Call Saul“ erzählt die hinreißende Geschichte eines talentierten Manns, dem sein Gewissen in die Quere kommt, wenn er pragmatisch Böses tun will, und den seine Lust am Manipulieren und Austricksen überfällt, wenn er die Chance hätte, Gutes zu tun. Je länger die Serie geht, desto faszinierter stellt man sich die Frage, ob Jimmy eine Nebenfigur in der eigenen Serie ist. Ob „Better Call Saul“ nicht ein noch stärkeres Zentrum in der von Rhea Seehorn gespielten Anwältin Kim Wexler hat, der Frau an Jimmys Seite.

„Better Call Saul“ ist ein Festmenü großer Schauspielkunst. Drehbuch und Inszenierung lassen einen fortwährend staunen: weil sich so viel Mut zum Schweigen, zur kleinen, alles erzählenden Geste und vor allem zum Porträt der katastrophalen Gewalt des Nichtsagens nirgends sonst finden lassen. Und nun ausgerechnet in einer Serie um einen wortgewandten Einseifer.

Die Ausstattung ist brillant, die Kameraarbeit so unaufdringlich berückend, dass man auch im Kino lange suchen muss, um Ähnliches zu finden. Man könnte lange viele kleine und große Wunderbarkeiten der Serie preisen, aber eigentlich lässt sich alles in zwei Worten zusammenfassen: unbedingt anschauen. Allerdings geht man das Risiko ein, das Leben einer ganzen Palette von Figuren interessanter zu finden als das eigene.

Auch für Neueinsteiger: „Better Call Saul“

Verständlichkeit
Kann man „Better Call Saul“ folgen, wenn man die Vorgängerserie „Breaking Bad“ nicht gesehen hat? Fast problemlos. In einer Rahmenhandlung sieht man Jimmy McGills neues Leben. Man begreift sofort: Er lebt im Versteck. Rückblenden, der Hauptteil der Serie, erzählen, wie aus Jimmy McGill allmählich Saul Goodman wurde.

Krise
Durch Corona-Lockdowns und eine Erkrankung von Bob Odenkirk war die Produktion der sechsten Staffel lange ungewiss.

Verfügbarkeit
Alle sechs Staffeln mit 63 Folgen sind bei Netflix abrufbar – wie auch „Breaking Bad“.