Die Bettlerhäuser an der Reutlinger Straße in Stuttgart-Degerloch haben den Bezirk im vergangenen Jahr umgetrieben. Der Bezirksvorsteher Marco-Oliver Luz lässt einen Fall Revue passieren, bei dem auch Arm und Reich aufeinandertreffen.

Klima & Nachhaltigkeit: Judith A. Sägesser (ana)

Degerloch - Ein unschönes Thema hat Degerloch 2020 bewegt: In Häusern an der Reutlinger Straße hatten sich Osteuropäer tageweise eingemietet. Die Nachbarn klagten über Lärm und aggressives Auftreten. Der Bezirksvorsteher Marco-Oliver Luz sprang ihnen zu Hilfe.

 

Herr Luz, Sie sind jetzt ein Jahr Bezirksvorsteher in Degerloch. Durch Ihre Corona-Erkrankung im Frühjahr wurden Sie ja gleich wieder herausgerissen. Sind Sie inzwischen angekommen?

Ja, auf jeden Fall. Und ich muss ehrlich sagen: Man hat es mir sehr leicht gemacht. Leider sind Veranstaltungen, wo man sich begegnet, dieses Jahr weggefallen. Trotzdem fühle ich mich wirklich heimisch.

Ein Thema, das 2020 in Degerloch hochgekocht ist, waren die Bettlerhäuser an der Reutlinger Straße. Mit der Räumung ist das Problem aber ja nicht weg. Es ist keine Lösung, sondern eher eine Verdrängung. Wie sehen Sie das?

Ähnlich wie Sie. Ich wollte erst einmal Ruhe und eine geordnete Situation herbeiführen. Das waren Zustände, die man den Nachbarn nicht zumuten konnte. Das Problem ist: Sie kommen mit diesen Menschen nicht ins Gespräch. Dadurch, dass diese südosteuropäischen Tagesbesucher eine in sich geschlossene Gruppierung sind und die Einzelnen jeweils nur wenige Tage dort waren. Wo ich Ihnen recht gebe, aber da enden meine Einflussmöglichkeiten: Das Thema Bettelmigration hat sich dadurch in andere Stadtbezirke oder Städte verschoben. Letztendlich ist es ein EU-Thema, wie die Lage in Südosteuropa ist.

Das Bild ist frappierend: die Bettlerhäuser im reichen Degerloch. Da prallen Welten aufeinander. Wie gehen Sie mit diesem Spagat um?

Ich war ja früher Abteilungsleiter Flüchtlinge beim Sozialamt. Da ist der Grundsatz: fördern und fordern. In jeder Gesellschaft gibt es gut situierte Bevölkerungsteile, und es gibt arme Bevölkerungsteile. Allerdings sage ich: Fürs Zusammenleben in einer Gemeinschaft braucht es klare Grundregeln. Ungeachtet, wo die Menschen herkommen und welches Schicksal sie haben. Außerdem: Wer gut situiert ist, tut auch etwas dafür. Es ist ein Thema des Sozialstaats, wie man armen Menschen helfen kann. Dieses Problem können wir in Degerloch allein nicht lösen.

Man könnte aber auch sagen: Da ist plötzlich die Armut dieser Welt in meinem Vorgarten. Unausblendbar.

Ich habe viele Gespräche mit den Anwohnern geführt. Und ich habe sehr vernünftige Menschen kennengelernt, die gesagt haben: Mir tun die kleinen Kinder leid, die da reingeboren sind und das Verhalten der Eltern nachahmen. Die gesagt haben, sie wollen keine Eskalation. Natürlich prallen da Welten aufeinander. Sie können nicht von den Anwohnern erwarten, dass wir uns diesen Verhältnissen anpassen. Aber es sind ja trotzdem Menschen, die sind ja auch so geworden, weil ihre Lebensbedingungen sind, wie sie sind.

Das Verständnis hatten die Anwohner?

Ja. Aber: Diese Anwohner hatten in ihrem intensiven Protest nicht unrecht. Wenn Sie den Lärm gehört hätten, wenn Sie die Müllberge gesehen hätten und die Ratten und Kakerlaken, die da rumgelaufen sind – diese Viecher, dieser Lärm. Wenn man das so hautnah Tag für Tag, Abend für Abend, erlebt, wenn man dann irgendwann sagt: Das sind für mich unzumutbare Zustände, dann denke ich, kann man von den Menschen nicht mehr erwarten, dass sie sozialökonomische Themen über die eigene Belästigung stellen.