Die Statistiker in Stuttgart errechnen alle fünf Jahre, wie sich die Bevölkerung in den Gemeinden des Landes entwickeln wird – die letzte Berechnung stammt aus dem Jahr 2019 und blickt bis ins Jahr 2035. Neben dem Durchschnittsalter wird berechnet, wie sich die Einwohnerzahlen insgesamt entwickeln. Auch unter diesem Aspekt wird dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer gefallen, was er in den Zahlenreihen sieht – nämlich dass seine Stadt bis in 15 Jahren knapp 5000 weitere Einwohner dazugewinnen dürfte.
Alle Gemeinden in Typen eingeteilt
Man darf davon ausgehen, dass der OB oder die Experten im Tübinger Rathaus die Berechnung kennen. Die Daten würden in den Gemeinden „sehr umfassend genutzt“, vermutet die Soziologin Mara Mantinger, die sich jahrelang mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Wenn Baugebiete, Kita- und Kindergartenplätze oder allerlei Anderes geplant wird, kommen die Daten zum Einsatz. Größere Gemeinden stellen sogar eigene Vorausberechnungen an.
Das Statistische Landesamt kann nicht so genau arbeiten wie einzelne Städte. Stattdessen teilt es Gemeinden in verschiedene Typen ein, für die es Geburten- und Sterberaten, Zu- und Wegzüge sowie andere Faktoren fortschreibt. Für Tübingen gelten die gleichen Annahmen wie für die drei anderen mittelgroßen Universitätsstädte Heidelberg, Freiburg und Konstanz. Baden-Baden fällt in die Kategorie „Kur- und Erholungsorte mit viel Zuzug von Personen in der zweiten Lebenshälfte“. Es gibt auch den Typ „Gemeinde im Speckgürtel der Großstädte“ oder „sehr kleine Gemeinden mit sehr niedriger Arbeitsplatzattraktivität und sehr hohem Einfamilienhausanteil“.
Was man vorhersehen kann – und was nicht
Ereignisse wie die Flüchtlingswelle oder eine Pandemie können naturgemäß nicht vorhergesehen werden. Dass wie jüngst vermeldet, im Coronajahr sieben von neun Großstädten Einwohner verloren haben, wird erst in die Bevölkerungsvorausrechnung 2024 einfließen. Trotzdem sind die Zahlen auch für Laien interessant. Man kann beispielsweise ablesen, welche Gemeinde bis 2035 das höchste Durchschnittsalter haben wird (Schwarzach im Neckar-Odenwald-Kreis mit 50,5 Jahren), wo die Bevölkerung am stärksten altern wird (Lauterach im Alb-Donau-Kreis mit im Schnitt 6,1 Jahren) oder wo anno 2035 seit Jahren kein Kind zur Welt gekommen sein wird (Böllen im Kreis Lörrach).
Um die Methode zu verbessern, gleiche man regelmäßig die Vorausberechnung mit der tatsächlichen Entwicklung ab, sagt Mara Mantinger vom Statistischen Landesamt. Mittlerweile treffe man die Entwicklung „sehr gut“. Bei der letzten Berechnung vor drei Jahren hat das Amt sich für den Bevölkerungsstand im Jahr 2020 um 75 000 Personen vertan, für das Jahr davor um 35 000 und für 2018 waren 16 000 Menschen mehr erwartet worden, als tatsächlich gezählt wurden.
Das ist nicht nur das Ergebnis einer sich abschwächenden Zuwanderung, gepaart mit Fortzügen in Metropolen wie Hamburg oder Berlin. Der Vergleich mit der tatsächlichen Entwicklung zeigt auch, dass die Unsicherheit zunimmt, je weiter man in die Zukunft blickt. Man schreibe eben die Entwicklung der vergangenen Jahre unter gewissen Annahmen in die Zukunft fort, sagt Mantinger. Deshalb nenne man das auch „Vorausberechnungen“ und nicht „Prognose“, „da ja auch wir nicht wissen können, ob und welche gesellschaftlichen Umbrüche in den kommenden Jahren auf uns zukommen“, so Mara Mantinger.
Ohnehin lasse sich die Qualität der Berechnung nicht unbedingt daran ablesen, ob sich die Zahlen später auch tatsächlich so entwickeln. Vielmehr, sagt Mantinger, sei die Berechnung gerade für Gemeinden oft ein Hinweis auf Handlungsbedarf. Wenn die Berechnung dem Heilbad Badenweiler (Kreis Breisgau-Hochschwarzwald) attestiert, dass es jedes Jahr zehn Einwohner verlieren wird, steuert die Gemeinde im Idealfall gegen. Boris Palmer wiederum wird sich nicht nur freuen, dass seine Stadt wächst – sondern auch Wohnungen bauen.