So stellte man sich 2002 die Zukunft vor, verfilmt von Steven Spielberg in „Minority Report“. 17 Jahre später ist eine ähnliche Software längst im Einsatz. Sie ist eines von vielen Angeboten auf dem Markt und heißt sogar fast so wie die im Spielberg-Film. Zwar sagt das Programm Precobs keine Morde voraus und lässt auch niemanden vorsorglich verhaften, und doch verspricht der Hersteller seinen Kunden ein „Frühwarnsystem“, das schon bald „so zu dem polizeilichen Alltag gehören wird wie der Einsatz von E-Mail und SMS“.
Entscheidet also irgendwann der Computer über die öffentliche Sicherheit? Diese Frage stellt sich auch in Baden-Württemberg, wo Precobs erstmals 2015 und insgesamt zwei Jahre lang testweise im Einsatz war.
1500 Straftaten am Tag
Der Herr über die automatisierte Verbrechensprognose sitzt im ersten Stock eines Bürogebäudes am Rande eines Fellbacher Gewerbegebiets. Der 33-jährige Matthias Romberg ist Teil der sogenannten Zentralen Integrierten Auswertung, die in dieser Außenstelle des Landeskriminalamts ihren Sitz hat.
Romberg arbeitet seit fünfeinhalb Jahren im Landeskriminalamt. Bei der Polizei hat er vor 15 Jahren angefangen, er war ein Jahr im Streifendienst, hat sich aber schnell auf Datenanalyse spezialisiert. Schlank, im weißen Hemd und mit seiner dezenten Brille könnte er auch bei einem IT-Dienstleister arbeiten. Für seine Polizeiarbeit braucht er weder Dienstwaffe noch Uniform, sondern einen Rechner, Daten und Software.
Gut 1500 Straftaten werden an einem durchschnittlichen Tag in Baden-Württemberg registriert. Die Polizisten in den Revieren erfassen sie in einem System namens ComVor, wenngleich die von einem Hamburger Kollegen entwickelte Software mit Komfort nichts zu tun hat, wie man polizeiintern nur halb im Scherz sagt. Immerhin soll das Programm besser sein als das textbasierte Vorgängersystem aus der Prä-Windows-Zeit.
Jedenfalls werden damit viele Details zu jeder einzelnen Straftat erfasst – die sich dann mit entsprechender Software auswerten lassen. Die Polizei in Baden-Württemberg arbeitet dafür seit Jahren mit einem Programm namens Lagebild, das ebendies erzeugt: ein Abbild von dem aktuellen Kriminalitätsgeschehen, zum Beispiel auf einer Karte.
Anwendungen wie Precobs setzen noch einen drauf: Sie sagen voraus, wo die nächste Straftat passiert. Besonders gut eignen sie sich für Wohnungseinbrüche. Die Polizei speist die entsprechenden Daten ein. Heraus kommt eine Prognose, wo bald ebenfalls eingebrochen werden könnte – was die Polizei dann durch verstärkte Präsenz auf der Straße verhindern kann. Was nach Hellseherei klingt, ist in Wahrheit jedoch „nur ein Algorithmus, und zwar ein relativ schlichter“, wie Matthias Romberg sagt.
Precobs schlägt automatisch Alarm
Um die 100 Einbrüche finden jeden Monat in Stuttgart statt. Das Programm schaut sich an, wo eingebrochen wurde und ob die Umstände auf professionelle Täter schließen lassen. Auf dem Computerbildschirm wird das Stadtgebiet in farbige Kacheln unterteilt, die jeweils ein paar Straßenzüge umfassen und die das Programm mit Attributen wie „Wohnblocks“, „Rentner in einfachen Nachkriegsbauten“ oder „statushohe Großstädter“ umschreibt. Findet der Einbruch innerhalb einer gelben oder einer roten Kachel statt und damit in einem Gebiet, wo häufiger eingebrochen wird, schlägt die Software Alarm: Achtung, Wiederholungstäter!
Wird aus einem Haus ein großformatiger Fernseher entwendet, deutet das auf Amateure hin. Profis haben es eher auf Schmuck und Bargeld abgesehen. Sie bereiten sich gut auf einen Einbruch vor und schlagen dann oft mehrmals hintereinander zu – weil etwa in Neubaugebieten mit jungen Familien nicht nur eines, sondern viele Reihenhäuser vormittags leer stehen. „Near repeat“ nennt sich die dazugehörige Theorie. Diese sei weltweit nachweisbar, sagt Matthias Romberg. Warum sollte die Polizei also nach einem Einbruch innerhalb der roten Kacheln nicht eine Zeit lang mehr Präsenz zeigen?
Das sieht auch das Innenministerium des Landes so, das Precobs unter Anleitung und Aufsicht des Landeskriminalamts beziehungsweise Matthias Romberg in zwei Versuchsphasen in Stuttgart und Karlsruhe testete. Schlägt die Software Alarm, kann der für die Analyse zuständige Beamte per Mausklick einen Hinweis an das jeweilige Revier schicken. In der Woche nach dem Einbruch wird in dem Gebiet dann verstärkt Streife gefahren, im Schnitt gut 20 Stunden lang. In Stuttgart wurde in der sechsmonatigen ersten Testphase im Winter 2015/16 insgesamt 111-mal ein solcher Einbruchsalarm ausgelöst, wie aus einer Evaluation des Max-Planck-Instituts hervorgeht.
Zwar wurde dank der Precobs-Maßnahmen in besonders gefährdeten Gebieten weniger eingebrochen, sagt Matthias Romberg, allerdings verdränge das Streifefahren in einem Risikogebiet die Täter nur. Dass die Polizei einen Einbrecher auf frischer Tat ertappt, sei „immer noch die große Ausnahme“. Vergebens also die zum Start der Testphase vom Innenministerium verbreitete Hoffnung, dass „der Streifenwagen zur richtigen Zeit am richtigen Ort um die Ecke biegt“. Außerdem gehen die Einbruchszahlen seit Jahren zurück: Es gab schlicht zu wenig Daten, damit Precobs vernünftig funktionieren kann. Auch deshalb entschied Innenminister Thomas Strobl vergangene Woche, Precobs nicht länger in Baden-Württemberg einzusetzen. In München läuft die Software jedoch seit Jahren im Dauerbetrieb.
Täter verhaften ist auch mit Software „wie Lottospielen“
So spektakulär wie im Kino ist die Verbrecherjagd am Rechner nicht. Schließlich wertet die Polizei schon lange die aktuelle Lage datenbasiert aus – bei Einbrüchen, aber auch bei anderen Deliktarten. Und natürlich ist erfahrenen Polizisten klar: Wo die Polizei mehr Streife fährt, schreckt sie Einbrecher ab.
Ohne die Beamten draußen vor Ort sind die Datenleute am Computer machtlos. Man solle da bitte nicht wörtlich zitieren, aber die Kollegen auf Streife täten sich manchmal schwer, den Nutzen der ausgiebigen Datenanalysen zu erkennen, heißt es. Das ist kein Geheimnis: In der Precobs-Evaluation sagten 370 von fast 500 befragten Polizisten, ihre Kollegen hielten den Einsatz solcher Vorhersageprogramme für überflüssig. Insgesamt habe die Software die Polizei „stark polarisiert“, heißt es in dem Bericht weiter.
Was denken die Polizisten auf der Straße?
Außerhalb der Polizei überwiegt die Ablehnung gegenüber Programmen wie Precobs. „Nicht alles, was technisch möglich und rechtlich zulässig ist, ist auch sinnvoll“, schrieb der Landesdatenschutzbeauftragte Stefan Brink vor zwei Jahren in einer Pressemitteilung. Die „NZZ“ berichtete über den „Kommissar Kristallkugel“. Die „FAZ“ wies kritisch auf die Rolle des „Algorithmus in der Befehlskette“ hin, und das in technikaffinen Kreisen beliebte Netzmedium „Heise online“ überschrieb einen Bericht mit „Entzauberte Vorhersage“.
Weitermachen? Der Innenminister entscheidet
Dennoch bedeutet das Aus für Precobs nicht, dass Matthias Romberg die Arbeit ausgeht. Computer liefern automatisiert Hinweise, wo bislang mühsame Handarbeit nötig ist. Sie sehen Zusammenhänge in Datenmengen, bei denen Menschen längst aufgeben. Big Data ist auch in der Polizeiarbeit ein Thema, und Romberg wühlt sich durch die Zahlen. Derzeit arbeitet er an Schaubildern für die Kollegen in den Revieren: In welchem Viertel passiert gerade besonders viel? Nehmen die Einbruchszahlen zu oder ab? Haben wir ein Problem mit Taschendiebstählen?
Natürlich wäre das auch für die Öffentlichkeit interessant oder zumindest für Anwohner, in deren Gegend aktuell Serientäter unterwegs sind. In Polizeikreisen winken da die meisten ab – auch mit dem Verweis auf das aktuell geringe öffentliche Sicherheitsgefühl. Frei nach dem ehemaligen Innenminister Thomas de Maizière: Ein Teil der Wahrheit würde die Bevölkerung verunsichern.
Die Diskussion über Programme wie Precobs ist nicht beendet. Schließlich kann Software noch für ganz andere Dinge eingesetzt werden. In einigen Bundesstaaten der USA beispielsweise hilft ein Computerprogramm Richtern dabei, das Strafmaß für Täter festzulegen. Es rechnet aus, wie wahrscheinlich ein Verurteilter erneut straffällig wird. Nach welchen Kriterien da gerechnet wird, weiß der Hersteller allein. „So etwas halte ich für unethisch“, sagt der LKA-Beamte Romberg. Es ist eben etwas anderes, ob der Computer sich Kriminalitäts-Hotspots vornimmt oder ob er vorhersagt, wie wahrscheinlich jemand zum Täter oder zum Opfer wird. Zumal Algorithmen dazu neigen, Vorurteile gegen Gruppen wie Migranten zu verstärken, obwohl statt der Nationalität doch eher Armut oder mangelnde Integration die Neigung zu einer Straftat erhöhen. Auch junge Männer zählen zur Hochrisikogruppe.
In „Minority Report“ erschießt sich Lamar Burgess am Ende selbst. Er konnte den Mord an seiner Frau zwar vor seinem System Precrime verheimlichen, nicht aber vor Chief Anderton. Mit dem Freitod des Fieslings stirbt auch dessen Computerprogramm, das Verbrechen vorhersagen konnte und letztlich doch versagt hat. Unwahrscheinlich, dass es in der Realität in absehbarer Zeit so weit kommen wird, wenn Baden-Württemberg nicht einmal ein System gegen Wohnungseinbrüche benötigt. Sollte irgendwann wieder mehr eingebrochen werden: Matthias Romberg sieht es als Erster, in seinen Zahlen.