Der Verein Leseohren richtet den treuen Vorlesern zum 20-jährigen Bestehen des Vereins ein Fest im Kursaal in Bad Cannstatt aus und verbindet den Dank mit einem Appell an die Bereitschaft neuer Helfer für immer mehr Aufgaben.

„Wer ist seit zwanzig Jahren dabei“, will Isabel Fezer von den etwa 170 Gästen im Kursaal in Bad Cannstatt wissen, in dem das Stuttgarter Vorleseprojekt Leseohren sein 20-jähriges Bestehen feiert und für die Lesepaten ein Fest ausrichtet. „So viele!“, staunt die Bürgermeisterin für Jugend und Bildung, als zahlreiche Arme in die Höhe gestreckt werden – von treuen Lesepaten der ersten Stunde, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Kinder an die Welt der Bücher heranzuführen, sie mit Geschichten und neuen, bunten und fantasievollen Welten schlauer und zudem auch glücklich zu machen. Vorleser wie Rita Dressler und Wolfgang Strobel.

 

Voller Terminkalender mit Vorleseterminen

Leseohren statt Eselsohren in lieblos behandelten Büchern: Eine Anzeige in den Stuttgarter Zeitungen, mit der die Initiatoren, darunter die Vorstandsvorsitzende Karin Rösler, das neue Vorleseprojekt 2002 vorgestellt und um Unterstützung durch Lesepaten geworben hat, kam Rita Dressler gerade recht. Die heute 78-jährige hatte damals ihre berufliche Perspektive als Stationsleiterin für Sabena und Swissair am Stuttgarter Flughafen verloren, weil beide Airlines eingestellt wurden. „Ich muss was tun“, befand sie damals. Und hat sich bei den Leseohren gemeldet. Wie seinerzeit spontan an die 80 Gleichgesinnte. Seither ist ihr Terminkalender mit Einsätzen als Vorleserin ständig randvoll: „Am Samstag bin ich im Rathaus und am Sonntag bei der Bücherbörse in Bad Cannstatt“, kündigt sie ihre nächsten Auftritte an. „Wenn Bettina jemand braucht, ruft sie mich an und ich komme“, sagt sie und lacht.

Bettina, das ist Bettina Kaiser, die Geschäftsführerin von Leseohren e. V. Für den von Isabel Fezer gerühmten „langlebigen Erfolg“ dieser Initiative braucht sie Menschen, auf die Verlass ist und mit denen sie rechnen kann. Wie Wolfgang Strobel. „Ich lese jeden zweiten Donnerstag im Monat in der Stadtbibliothek vor Kindern im Vorschulalter “, erzählt der ehemalige Studiendirektor, der Deutsch und Englisch unterrichtet hat. Was liest er? „Gern Märchen. Und am liebsten das vom Fischer und seiner Frau: Meine Frau, die Ilsebill, will nicht so, wie ich gern will“, zitiert er gleich. Und er erlebe dabei, versichert Wolfgang Strobel, eine wunderbare Reaktion der Kinder: „Die verstehen das schon sehr gut, dass man nicht immer alles bekommt im Leben, was man haben will.“ Nicht nur das Vorlesen, auch und vor allem die Gespräche mit den Kindern seien für ihn jedes Mal eine große Freude.

Dialog und Interaktion sind ganz wichtig“, bestätigt Bettina Kaiser. Ob bei der ursprünglichen Zielgruppe von Drei- bis Zehnjährigen oder bei dem Projekt Leselust statt Notenfrust, das als Unterstützung der Schulen gegen die Lerndefizite durch die Pandemie-Folgen entstanden ist. Und erst recht bei dem neuesten Projekt Shared Reading, dem Versuch, Jugendliche emotional so anzusprechen, dass sie sich aufs Lesen einlassen. Auf Manfred Schmitz (78) ist damit eine besondere Herausforderung zugekommen. Der ehemalige Landtagspräsident ist Lesepate, „seit ich in Ruhestand gegangen bin“, jetzt zählt er zu den Facilitatoren, den Begleitern, des geteilten Lesens mit Jugendlichen nach englischem Vorbild: „Ich lese Texte und ein dazu passendes Gedicht und frage die Schüler, was sie dabei erleben und empfinden. Dann sollen sie selber lesen.“ Für die Auswahl der Texte sind die Facilitatoren zuständig – nach einer speziellen Ausbildung, die der Verein in Zusammenarbeit mit der Robert-Bosch-Stiftung, einem der vielen bedeutenden Sponsoren und Unterstützer, anbietet.

Jede Woche werden rund 2000 Kindern erreicht

Wöchentlich würden 2000 Kinder vom Einsatz der Leseohren mit konstant 500 Lesepaten erreicht, und Stuttgart gebe damit ein leuchtendes Beispiel, dankte Isabel Fezer. Doch ganz sind die Lücken, die Corona gerissen hat, in den Reihen der Vorleser noch nicht wieder gefüllt, räumt Bettina Kaiser ein. „Viele zögern noch aus Angst vor Ansteckung, wollen zwar wiederkommen, aber wer weiß´“, sagt sie, wohl auch im Hinblick auf das fortgeschrittene Alter der Paten. Bettina Kaiser wird deshalb nicht müde, das Mantra des Vereins zu wiederholen: „Wir brauchen so viele neue Lesepaten wie möglich.“ Denn mit den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine ist die Dimension der Aufgaben noch einmal angewachsen: „Für das Projekt Leseheimat, dem Vorlesen für Geflüchtete in immer mehr Vorbereitungsklassen und auch in den Unterkünften, brauchen wir 40 Patinnen und Paten“, listet Bettina Kaiser auf. Dazu kämen 64 Vorlesende für Grundschüler mit Lerndefiziten an den Grundschulen und weitere für 40 Kitas: „Macht unterm Strich einen Bedarf von 150 neuen Lesepatinnen und -paten.“

Das Projekt macht Zuhörer und Vorleser glücklich

Umso wichtiger war es Karin Rösler und Bettina Kaiser vom Verein und Bürgermeisterin Fezer, dem treuen Vorlese-Team mit dem Jubiläumsfest den entsprechenden Dank abzustatten. Dabei könnte Isabel Fezers augenzwinkernder und mit Applaus bestätigter Verdacht, dass das Vorlesen nicht nur die Zuhörer, sondern auch die Vorleser selbst glücklich macht, der Bereitschaft neuer Helfer Vorschub leisten. Wie sagt Rita Dressler: „Ich möchte mit Worten umarmen. Und das tut mir selbst sehr gut.“