Nach dem Absturz der baden-württembergischen Schüler im Leistungsvergleich mahnt Hans Anand Pant, der Geschäftsführer der Deutschen Schulakademie, Neuerungen müssten in erster Linie der Verbesserung des Unterrichts dienen.
02.11.2016 - 06:00 Uhr
Stuttgart - Die Bemühungen um sozial benachteiligte Schüler haben in Baden-Württemberg offenbar wenig gefruchtet. Der Erziehungswissenschaftler Hans Anand Pant konstatiert nach der IQB-Bildungsstudie, dass vor allem Kinder aus sozial schwächeren Elternhäusern in Deutsch zurückgefallen sind. Den Migrationshintergrund zahlreicher Schüler sieht er nicht als entscheidende Ursache für das schlechte Abschneiden des Landes.
Herr Pant, Sie haben schon früher angedeutet, dass Baden-Württemberg im Leistungsvergleich seit Jahren bestenfalls stagniert. Ist der aktuelle Absturz tatsächlich keine Überraschung?
Die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler in Baden-Württemberg sollten nicht pauschal als „Absturz“ charakterisiert werden. Der IQB-Bildungstrend ist keine Bundesligatabelle. Überprüft wird in erster Linie, in wieweit die Schüler in allen 16 Bundesländern die bundesweit geltenden Bildungsstandards erreichen und ob sich die Länder im Laufe der Jahre dabei verbessern. Bei der Lese- und Zuhörkompetenz im Fach Deutsch gibt es hinsichtlich der Standarderreichung eine Verschlechterung bei den Schülern der neunten Klassen, die für Baden-Württemberg allerdings größer ausfällt als im Bundestrend. Aber schon in der letzten IQB-Grundschuluntersuchung im Jahr 2011 zeigten die Viertklässler aus Baden-Württemberg in Deutsch lediglich durchschnittliche Leistungen. Dem konnte die Sekundarstufe 1 in den letzten Jahren offenbar nicht entgegenwirken.
Hätte man dem Leistungsabfall gegensteuern können?
Schaut man sich die Ergebnisse der aktuellen IQB-Studie genauer an, erkennt man interessanterweise, dass der Leistungsabfall in Deutsch in erster Linie bei den Jugendlichen ohne Zuwanderungshintergrund passiert ist und bei denen, die aus sozial schwächeren Elternhäusern kommen. Diese Gruppe ist in den letzten Jahren möglicherweise nicht stark genug im Fokus von Förderanstrengungen gewesen.
Was machen Bayern und Sachsen besser?
Studien wie der IQB-Bildungstrend betreiben keine vertiefte Ursachenforschung, ich kann hier also nur Annahmen über langfristig wirksame Faktoren machen. Dazu gehört sicher, dass in Sachsen und Bayern seit Jahrzehnten eine stabile Schulstruktur besteht, sodass Lehrkräfte und Schulleitungen weniger Zeit und Energien für Umstellungen aufbringen und mehr in die Gestaltung des Unterrichts investieren können. Der Vergleich mit Bayern zeigt allerdings, dass auch dort die Deutschleistungen in der Tendenz nachgelassen haben. Bemerkenswerter finde ich, dass im „Aufsteigerland“ Schleswig-Holstein in den letzten Jahren viel in den Aufbau einer datengestützten Schulentwicklung investiert wurde. Es hilft, wenn Schulen und Bildungsverwaltung ziemlich genau wissen, wie es um die Leistungen steht, um entsprechend reagieren zu können.
Ist Baden-Württemberg mit seinen ganzen Reformen auf dem falschen Dampfer?
Das wird man seriöser Weise erst in einigen Jahren beurteilen können. Die Anlage des neuen Bildungsplans zielt auf mehr Chancengerechtigkeit und einen besseren Umgang mit heterogenen Klassen und damit auf Veränderungserfordernisse, denen sich unsere Gesellschaft in jedem Fall stellen muss. Entscheidend wird sein, inwieweit die Pädagoginnen und Pädagogen mit diesem Bildungsplan personalisierte, geistig anregende und motivierende Lerngelegenheiten für ihre Schüler schaffen können. Dabei müssen sie durch entsprechende Zeitressourcen, Material und wirksame Fortbildung unterstützt werden.
Welchen Anteil haben die Reformen am Leistungsabfall?
Die Gründe hierfür sind viel zu komplex, um sie auf einige bestimmte Reformen zurückführen zu können. Das Beispiel Schleswig-Holstein zeigt ja, dass Reformen an sich nicht die Quelle des Übels sind. Dort wurden ab dem Schuljahr 2010/2011 die Haupt- und Realschulen zunächst zu Regional-, dann zu Gemeinschaftsschulen zusammengeführt. Ich plädiere eindringlich dafür, dass die Bundesländer viel stärker in einen systematischen Austausch treten, unter welchen Bedingungen Reformen einen positiven Effekt haben beziehungsweise erwarten lassen. Hier hätte der Bildungsföderalismus einen Sinn.
Wie kommt das Land aus der Misere?
Das Leistungspotenzial der Kinder und Jugendlichen – und im Übrigen auch der Lehrkräfte – in Baden-Württemberg ist ja nicht plötzlich verschwunden. Im Wesentlichen wird es darum gehen, dass alle Beteiligten im Bildungsbereich sich immer wieder selbst vergewissern, ob ihr Handeln wirklich der Verbesserung der Lernprozesse im Unterricht dient. Alle Neuerungen und Reformen, die gedanklich vor der Tür des Klassenzimmers stehen bleiben, sind zumindest fragwürdig.
Jetzt heißt es, Leistung soll wieder in den Vordergrund rücken. Ist der Leistungsgedanke in Baden-Württemberg vernachlässigt worden?
Der neue Bildungsplan betont, dass die Verschränkung von fachlichem und überfachlichem Lernen verbessert werden soll. Hier sollte darauf geachtet werden, dass das Eine nicht gegen das Andere ausgespielt wird. Jugendliche ohne ausreichende Kompetenzen in den „Kernfächern“ aus dem Schulsystem zu entlassen, wäre unverantwortlich. Andererseits wünschen wir uns angesichts der zunehmenden Tendenz zu religiösen und weltanschaulichen Monopolansprüchen auch, dass Demokratiebildung und multiperspektivisches Denken gestärkt werden. Der Stellenwert von Leistung ist immer auch unter der Perspektive von gesellschaftlichen Werten insgesamt zu beurteilen.