Trotz Hunderter Hassmails lässt der Kultusminister Andreas Stoch beim Thema sexuelle Vielfalt nicht locker. Er will es aus der „Schamecke“ herausholen. Ein neuer Bildungsplan allein reiche da nicht, sagt er beim Kirchentag.

Familie, Bildung, Soziales : Michael Trauthig (rau)

Fellbach - Am berührendsten sind an diesem Morgen die Momente, in denen die, um die es hier geht, selbst zu Wort kommen. Tim Brügmann etwa, der wohl den einzigen geistlichen Chor Deutschlands leitet, der damit wirbt, schwule, lesbische, bisexuelle, transsexuelle, heterosexuelle und Sänger mit anderen Identitäten zu vereinen. Tim Brügmann hieß früher Angela, hat zwei Kinder und erzählt nach den ersten Gesangseinlagen gelassen und humorvoll, wie seine Kinder damit umgingen, dass aus Mama einst Papa wurde. „Dass sich ihre Eltern getrennt haben, war für sie wohl schlimmer als der Geschlechtswechsel“, sagt der schlanke Mann, der früher Sopran gesungen hat. Schon diese Bemerkung zeigt, dass Brügmanns Weg alles andere als leicht war.

 

Der Dirigent erzählt auch, dass der Chor Queerubim ein paar Mal im Jahr in Kirchengemeinden auftrete. Die Pfarrer hielten allerdings teilweise damit hinter dem Berg, welche Arten von Menschen da auf der Bühne stünden . Die Kirche und vor allem ihr konservativer Flügel tut sich eben nicht leicht, den Wandel der Familienformen und die zunehmende Akzeptanz der sexuellen Vielfalt in unserer Gesellschaft anzunehmen. Das wird auch am Samstag in der Schwabenlandhalle in Fellbach deutlich. So erinnert die Moderatorin Adrienne Braun von der StZ daran, dass der Vatikan die Volksabstimmung in Irland zugunsten der Homo-Ehe eine „Niederlage für die Menschheit“ nannte.

Partner des Sohnes ist für Loni Bonifert wie „dritter Sohn“

Noch eindrücklicher wird es, als Loni Bonifert, die Leiterin der Selbsthilfegruppe für Eltern homosexueller Kinder, spricht. Die Stuttgarterin erzählt, dass ihr schwuler Sohn sich erst mit 18 geoutet habe, dass es schwer für ihn gewesen sei in der Schule, weil es an Aufklärung und Wissen über Homosexualität gefehlt habe. Am leidenschaftlichsten wird Bonifert, als sie über die Kirche redet. Der Ältere habe nun einen sehr netten Partner gefunden. Er sei für sie wie ein dritter Sohn. Da „finde ich es unerträglich“, dass die beiden nicht genauso in der Kirche heiraten dürften, sagt Bonifert und erntet donnernden Applaus.

Kein Wunder, denn sie äußert sich nicht beim Christustag oder beim Stand der Evangelischen Allianz, wo diejenigen sind, die die Bibel besonders wörtlich nehmen, sondern beim Zentrum Regenbogen. Das geht beim Kirchentag in vielen Veranstaltungen die Diskriminierung von Menschen an, deren Sexualität und Lebensform nicht ins traditionelle Raster passen. „Wir wollen nicht erduldet werden! Streit um LSBTTIQ in Baden-Württemberg“ lautet der Titel der Veranstaltung in Fellbach. Weniger Kundigen erklärt Adrienne Braun erst den Sinn der Buchstabenfolge: Es geht um Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Transgender, Intersexuelle und andere „quer lebende Menschen“. Und es geht darum, dass der Konflikt darüber sich vor allem an den Plänen zum neuen Bildungsplan entzündete.

Kultusminister will sexuelle Vielfalt aus „Schamecke“ holen

Weil ein internes Arbeitspapier, in dem der Begriff sexuelle Vielfalt überstrapaziert wurde, an die Öffentlichkeit gelangt war, machten Konservative mobil. Wie sehr ihn die Attacken getroffen haben, macht Kultusminister Andreas Stoch in Fellbach klar. Hunderte von Hass- und Bedrohungsmails seien im Kultusministerium eingegangen. Es habe Falschbehauptungen und Zerrbilder gegeben. Bestürzt zeigt sich der SPD-Politiker auch, dass eine Eingabe der Kirchen zum Teil einer Online-Petition gegen das Vorhaben geglichen habe – und das, obwohl die Kirchen in den Diskussionsprozess eingebunden gewesen seien.

Stoch bittet nun um verbale Abrüstung. Er lässt aber keinen Zweifel daran, dass er das Thema der sexuellen Vielfalt an der Schule „aus der Schamecke“ holen will. Damit sich alle jungen Menschen als gleichwertig und gleich liebenswert empfinden könnten. Bei der Debatte wird zudem klar, dass es mit einem Bildungsplan nicht getan ist. Es brauche auch durch Fortbildung sensibilisierte Lehrer, entsprechende Schulbücher und engagierte Eltern. Das Podium und das Publikum sind sich weitgehend einig. Nur Werner Baur, der Bildungsdezernent der Landeskirche, hat einen schweren Stand. Er soll erklären, warum die württembergische Kirche hier rückständiger ist als andere. Sein zentrales Argument: die evangelische Kirche müsse die Einheit von Liberalen und Traditionalisten wahren. Am Ende kann der Theologe wohl etwas aufatmen: Eine Resolution, die die völlige rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen in der Kirche fordert, scheitert aus formalen Gründen. Es sind keine 500 Leute mehr im Saal. Die Mehrheit hätte aber sicher zugestimmt.