Sie können mit Waffen umgehen, aber nicht lesen. Doch Hilfe naht: Im kriegszerstörten Land Afghanistan lernen Polizisten lesen und junge Frauen erhalten Berufsperspektiven – mit deutscher Hilfe.
Kabul - Der Staub ist ein treuer Begleiter in den Straßen Kabuls. Er entfärbt die Gemüsestände am Straßenrand, trübt den Blick auf die Wohnblocks, lässt die stumpfblauen Schatten verschleierter Frauen erahnen, die durch den gesetzlosen Verkehr huschen, und legt sich rußig auf die Zunge. Die gefilterte Sonne blickt gleichmütig auf eine von Jahrzehnten Krieg ausgehöhlte Stadt. Nur die Lichtblitze der Schweißgeräte in zahllosen Werkstätten durchschneiden die Luft. Es wird gearbeitet in Kabul, das Leben befreit sich aus der Umklammerung des Kriegs. Motorroller warten auf neue Vergaser, ein Einbauschrank, aufgebahrt im Freien, auf einen Kunden. Blanke, frisch geschweißte Wasserrohre trotzen der ätzenden Luft.
Das zögernde Aufblühen einer arbeitsteiligen Wirtschaft fügt sich nicht so recht in das Bild von Afghanistan als Schauplatz des archaischen Kampfs militanter Gotteskrieger gegen die hochtechnisierten Heere der westlichen Demokratien. Diese Militärmaschine zieht im kommenden Jahr ab, was viele Beobachter zu apokalyptischen Prognosen animiert. Kaum schließe der letzte Soldat die Tür seines Feldlagers, drängten die Taliban zum Hintereingang hinein, prophezeien die Skeptiker. Jedes Aufflackern lokaler Kämpfe, jede Aktualisierung des Bodycounts, der Verlustrate der afghanischen Armee, wird als Indiz für den baldigen Rückfall des Landes in mittelalterliche religiöse Barbarei gewertet.
Die Welt der Schrift kennenlernen
Es gibt aber Menschen in Afghanistan, die eine andere Geschichte erzählen können. Mohamad Hassan, beispielsweise, der 38-jährige Polizist, in seinem von Stacheldraht umhegten Posten in Dehdadi, einige Kilometer außerhalb von Masar-i-Scharif. Diese Stadt im Norden des Landes gilt als moderner, ökonomisch entwickelter und liberaler als der Rest des Landes. Karim hat sein durchgeladenes Sturmgewehr neben die Schulbank gestellt und lässt seine schwieligen Finger über eine Textaufgabe gleiten. Mit halblauter Stimme erkundet er die Welt der Schrift
in dem zerlesenen Aufgabenheft. In fast allen Revieren des Nordens bringt die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gemeinsam mit dem afghanischen Innenministerium den Polizisten Lesen und Schreiben bei. „70 Prozent der Polizisten sind Analphabeten“, sagt Elke Schade, die Leiterin des Programms. „Sie können ihren eigenen Dienstplan nicht entziffern, keine Notizen und keine Anzeige formulieren.“
Jetzt kehrt so etwas wie Grundschulalltag in den staubigen Innenhof der kleinen Polizeifestung ein. Zwei Frauen gehören dazu. Die Polizistinnen sind gefragte Streitschlichter bei den oft blutigen Familienfehden in der Region. Ihnen sind Befragungen in Privaträumen möglich, zu denen Männer keinen Zutritt haben. Waffen oder Uniformen tragen sie nicht. 16 Wochen dauert die Ausbildung, zu der auch eine Unterweisung zur Gesundheitsvorsorge, zur Bedeutung von Menschenrechten und zum Umweltschutz gehört.
„Die Polizisten sind hoch motiviert“, sagt Schade. Die Faszination zu lernen
Der Aufbau eines beruflichen Bildungssystems
„Dieses Land giert nach Bildung“, bestätigt Gustav Reier. Aus den Worten des GIZ-Bildungsexperten dringt die Begeisterung eines Menschen, der bei null anfangen darf. Reier plant nichts weniger als den Aufbau eines beruflichen Bildungssystems in Afghanistan. In dem geschundenen Land gebe es rund 1,7 Millionen Jugendliche, die Perspektiven benötigten. „Eine Million von ihnen lungert als Tagelöhner auf der Straße herum, 70 000 absolvierten eine Ausbildung, zehn Prozent davon sind Mädchen.“ Bleiben noch gut 600 000. Und an die möchte Reier ran.
Es sind jene Arbeitskräfte, die in den Basaren und Werkstätten den langsamen Puls der afghanischen Wirtschaft am Pochen halten. „Das ist die Urform der dualen Ausbildung.“ In den Basaren herrschten klare Regeln, nach denen auch Analphabeten ausgebildet werden. Sogar eine informelle Prüfungsordnung gibt es. „Darauf müssen wir aufbauen.“ Doch die archaischen Werkstätten sind abgekoppelt von moderner Technik. Repariert wird nur, was älter als 15 Jahre ist, weil das Know-how fehlt. „Wenn die bei einem neueren Auto ein Teil ausbauen, machen sie drei andere kaputt,“ beschreibt Reier das technologische Niveau des afghanischen Kfz-Gewerbes. Jetzt wird der Nachwuchs in Metall- und Maschinenbau, Kfz- und Sanitärtechnik und Holzbau unterrichtet. 240 Berufsschulen, oft in Privathäusern untergebracht, gibt es bereits. Handwerk gegen Armut – eine Chance.
Wie die Mädchen und Frauen ihren Platz behaupten
Auf der Reise des Landes hin zu einem halbwegs geordneten Zivil- und Berufsleben haben Mädchen und Frauen feste Plätze. Intellektuell ausgehungert, sind sie aufgebrochen, angetrieben von der Ahnung, dass da draußen mehr ist als der Blick auf den ummauerten Innenhof des eigenen Hauses, von der Sehnsucht nach dem Überschreiten der auferlegten Grenzen, von der Selbstgewissheit der Jugend und dem drängenden Wunsch nach Veränderung. Sie sitzen in zugigen Klassenräumen, die oft nur löchrige Zelte sind, und tragen mit fester Stimme das Erlernte vor. Sie diskutieren in den Seminaren der Universität über die Vereinbarkeit von Scharia und weltlichem Recht, ermitteln als Kriminalbeamtinnen oder schwärmen aus, um das kostbare Wissen von Sprache und Schrift, Geschichte, Mathematik und Kultur in alle Landesteile zu tragen. Sie sind die Lotsen der Erneuerung. Eine Rückkehr der Taliban fürchten sie nicht.
Auch Mushla und Somaya haben eine lange Reise hinter sich. Als die Gotteskrieger die Macht übernahmen, waren beide Kinder. Mushla, eine Schönheit mit schwarz ummalten Augen, verlor den Vater, wurde ins Haus gezwungen und heimlich
Ob das Land sie bestehen wird? Die Reise in eine friedliche Zukunft hat viele Abzweigungen, die in den Abgrund führen. Im kommenden Jahr wird gewählt. Die Taliban sind zurückgedrängt, doch die Sicherheitslage ist weiterhin fragil. Im Staub der jahrzehntelangen Zerstörung erkunden Mohamad, Mushla und Somaya ihren Weg ins Licht der Moderne. Und wie sie tun es viele Afghanen.