Fast alle 1300 Schüler des Bildungszentrums Weissacher Tal (Bize) formen eine Menschenkette zum abgefackelten Flüchtlingsheim in Unterweissach und sagen damit „Refugees welcome“.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Weissach im Tal - Marei Schüle und Nathaly Seibold haben in den vergangenen Wochen weniger gebüffelt als viele andere Schüler, die demnächst Abitur machen. Die beiden Jugendlichen, die das Bildungszentrum Weissacher Tal (Bize) besuchen, haben sich trotzdem voll reingehängt – für ihre „Schule ohne Rassismus“. Nach dem Brandanschlag auf das noch unbewohnte Flüchtlingswohnheim in Unterweissach am 24. August stand für die 18-jährige Marei und die 16-jährige Nathaly fest: Wir müssen etwas tun, Farbe bekennen, ein Zeichen setzten gegen Rassismus.

 

An diesem strahlend schönen Donnerstagmorgen sind die beiden Freundinnen früh aufgestanden. Zusammen mit ein paar Dutzend Mitschülern treffen sie sich bereits kurz nach 7 Uhr auf dem Schulgelände. Später sollen möglichst alle 1300 Schüler eine Menschenkette bilden, die das Bize und das abgebrannte Haus in der Welzheimer Straße verbindet, die Strecke ist rund einen Kilometer lang.

Das will gut organisiert sein, generalstabsmäßig: Ordner mit knallgelben Westen werden eingeteilt, welche die ihnen zugedachte Klasse abholen und zum Standort geleiten sollen. Gegen 8.30 Uhr starten Radfahrer mit Videokameras, die später dokumentieren sollen, dass die Kette tatsächlich komplett geschlossen ist. Plakate werden verteilt mit Slogans wie „Refugees welcome“ und „Vielfalt statt Hass“.

„Refugees welcome“ und „Vielfalt statt Hass“

Kurz nach 9 Uhr. Der 16-jährige Nils Lindermair bringt die 8e zu ihrem Standplatz. Er erzählt, dass sich fast alle Schüler des Bize an der Aktion beteiligen. Eine Durchsage über die Lautsprecheranlage der Schule: „An alle Schüler, die ihre Paten nicht finden, bitte kommt zur Sitzmulde.“ Sarah Alznauer, die Klassenlehrerin der 8e, sagt, sie unterstütze die tolle Arbeit der Schüler und plane weitere Aktionen.

Gegen 9.35 Uhr heißt es: Die Kette steht

Die Paten geleiten alle Schüler klassenweise aus dem Schulgebäude. Ein paar Bürger gesellen sich zu den Kindern und Jugendlichen. Gegen 9.35 Uhr heißt es: Die Kette steht. Eine Schweigeminute, dann versammeln sich alle Schüler und Lehrer auf dem Areal gegenüber dem abgebrannten Haus. Die Stimmung ist prächtig. Viele strahlende Gesichter und ein zufriedener Schulleiter. Christoph Mohr sagt kurz vor dem Beginn der Abschlusskundgebung, dass er sofort zugestimmt habe, für die Aktion Menschenkette die dritte und die vierte Schulstunde frei zu geben. Es gelte, Farbe zu bekennen, auch wenn man unterschiedlicher Auffassung sein könne, ob die Asylpolitik der Regierung richtig ist – „ein Brandanschlag ist eine Straftat“. Punkt. Fast alle seiner 1300 Schüler seien dabei.

Marei und Nathaly betreten das Podium. Applaus. Marei sagt, die Schüler des Bize wollten zeigen, dass Weissach nicht „Dunkeldeutschland“ sei. Mit dieser Überschrift hatte das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ die 7000-Einwohner-Gemeinde tituliert. Marei ruft ins Mikrofon: „Wir nehmen jeden auf.“ Wieder Applaus. Mit der Aktion wollten die Schüler auch daran erinnern, dass in Deutschland „schon mal Häuser gebrannt haben“, nämlich in „Dritten Reich“, und dass dürfe nie wieder geschehen. „Viele von uns haben eine Flüchtlingsgeschichte“, sagt Marei. Keine Frage, in der Asylpolitik liege einiges im Argen, aber es sei keine Lösung, Häuser anzuzünden.

Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage

Der Schuleiter sagt, das Bize gehöre seit 2008 zum Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“, sei eine dieser 147 Schulen im Land. Deshalb sei das Bize „ganz besonders verpflichtet“ zu sagen: so nicht! „Wir wissen sehr wohl, dass die Flüchtlingsproblematik nicht mit einem Federstrich gelöst werden kann und vertreten nicht blauäugig die Meinung, dass wir heute beliebig viele Flüchtlinge aufnehmen und morgen alles in Ordnung ist.“ Auch kritische Stimmen müssten gehört werden. Aber Flüchtlinge benötigten Hilfe. Die Menschenkette sein ein Zeichen der Verbundenheit mit ihnen und „zugleich eine Abwehrkette gegen alle undemokratischen oder gar rechtsextremen Aktivitäten“. Brandstiftung und andere Arten von Gewalt seinen kein konstruktiver Beitrag. Die Demokratie kenne andere Formen der kontroversen Auseinandersetzung. „Davon wollen wir unseren Schülerinnen und Schülern nicht nur erzählen, sondern es ihnen vorleben.“

Der Elternvertreter Stephan Franzen spricht vom Geben und vom Nehmen. Die Deutschen hätten die Pflicht, den Schwachen beizustehen. Flüchtlinge hätten die Pflicht, sich an die demokratischen Spielregeln des Lands zuhalten, das sie aufnimmt. Die Gleichstellung von Mann und Frau zum Beispiel sei nicht verhandelbar sondern gesetzlich garantiert.

Mehr gelernt als viele andere Abiturienten

Bürgermeister Ian Schölzel sagt mit Bezug auf den „Spiegel“-Titel, der in der Gemeinde viele Menschen tief verletzt hat: „Weissach ist nicht Dunkeldeutschland sondern tolerant und offen.“ Zu den Schülern sagt er: „Es ist große Klasse, was ihr hier macht.“

Marei, Nathaly und die anderen Organisatoren der Menschenkette sind sehr zufrieden – und haben in den vergangen Wochen vermutlich mehr gelernt als viele andere Abiturienten im Land.

Großartig – Kommentar von Martin Tschepe

Das muss man erst mal hinbekommen. Die Organisatoren der Menschenkette vom Bildungszentrum Weissacher Tal zum abgebrannten Flüchtlingswohnheim in Unterweissach haben nahezu 100 Prozent der Schüler davon überzeugt, dass es nötig ist, eindeutig Farbe zu bekennen gegen Hass, Intoleranz und Gewalt. Glückwunsch!

Bei der Abschlusskundgebung haben die Schüler indes auch klar gesagt, dass man freilich streiten darf, streiten muss über die Asylpolitik der Bundesregierung. Keine Frage: längst nicht alles ist gut. Das Land steht vor nur schwer zu bewältigenden Aufgaben. Doch bevor gestritten wird, muss klar sein, auf welcher Grundlage. Intellektuell auseinandersetzen kann man sich nur mit Menschen, die das Gewaltmonopol des Staates akzeptieren, die klipp und klar sagen: Ein Brandanschlag ist kein Mittel der Politik. Wer nicht nur im übertragenen Wortsinne zündelt, der gehört hinter Gitter. Ende der Diskussion. Mit allen anderen Kritikern müssen sich alle Demokraten auseinandersetzen. Auch das haben die Schüler bei der Kundgebung gefordert.

Die Schüler haben mit ihrer großartigen Aktion quasi nebenbei ein uraltes Vorurteil Lügen gestraft. Oft heißt es doch: die Jugendlichen von heute seien nicht mehr engagiert, sie seien faul, lethargisch, politisch total desinteressiert. Stimmt nicht. Hat vermutlich noch nie gestimmt.