Früher bevölkerten Milliarden von Vögeln dieser Taubenart Nordamerika. Doch binnen weniger Jahrzehnten rottete der Mensch diese Art aus: Vor hundert Jahren starb „Martha“, das letzte Exemplar im Zoo von Cincinnati.

Stuttgart - Als am 1. September 1914 im Zoo von Cincinnati im US-amerikanischen Bundesstaat Ohio gegen 13 Uhr Ortszeit eine Taube starb, endete nicht nur eine faszinierende Erfolgsgeschichte der Evolution abrupt. Gleichzeitig schlug auch die Geburtsstunde des modernen Natur- und Artenschutzes. Und das weniger, weil die Taube nach der Ehefrau von George Washington – eines der Gründerväter der USA – „Martha“ genannt wurde. Vielmehr war der Vogel der letzte seiner Art Ectopistes migratorius. Und weil noch fünfzig Jahre vorher weit mehr dieser Wandertauben über Nordamerika flogen als es damals Menschen auf der gesamten Erde gab. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich nicht einmal die wenigen Naturschützer ihrer Zeit vorstellen können, dass eine in solchen Massen auftretende Art ausgerottet werden könnte.

 

Noch 1866 war ein unvorstellbar großer Schwarm dieser Wandertauben in der Nähe der heutigen Millionenstadt Toronto über den Süden der kanadischen Provinz Ontario geflogen. Geschlagene 14 Stunden dauerte es, bis die letzte Taube des rund 1600 Meter breiten und fast 500 Kilometer langen Zuges an einem Punkt vorbeiflog, fasste der auf Natur-Reportagen spezialisierte Journalist Jerry Sullivan Berichte aus dieser Zeit in der US-Wochenzeitung Chicago Reader vom 4. April 1986 zusammen. Aus solchen Zahlen schätzen Wildbiologen heute, dass damals mehr als 3,5 Milliarden Wandertauben in diesem einen Schwarm flogen.

Milliarden von Vögeln in einem Schwarm

Solche gigantischen Zahlen waren keine Ausnahme, sondern offensichtlich die Regel. Bereits im Herbst 1813 war der US-Ornithologe John James Audubon im US-Bundesstaat Kentucky fast 90 Kilometer weit bis zur Stadt Louisville geritten, während über ihm ein Schwarm Wandertauben einen ganzen Tag lang den größten Teil des Himmels verdunkelte. „Wie bei einer Sonnenfinsternis war es mitten am Tag dämmrig, wie schmelzende Schneeflocken fiel der Kot der Tiere zu Boden“, notierte der Naturwissenschaftler. Nach seiner Schätzung waren an diesem Tag mehr als eine Milliarde Wandertauben unterwegs. Offensichtlich liebten diese Vögel von der Größe der heute lebenden Ringeltauben das Leben in gigantischen Gruppen. Auch wenn es nur wenige solcher Schwärme gab, liegt die Vermutung nahe, dass vor wenigen Hundert Jahren jeder dritte oder vierte Vogel in Nordamerika eine Wandertaube war. Eventuell waren diese geselligen Tauben sogar die häufigste Vogelart ihrer Zeit.

Bevor die Kolonien der Europäer sich über Nordamerika ausbreiteten, war die gesamte Region zwischen den Prärien im Westen und der Atlantikküste im Osten und von den großen Seen im Norden bis fast an den Golf von Mexiko im Süden von Laubwäldern bedeckt. Im Norden dieser Region gab es genug Wildkirschen, Heidelbeeren, Trauben und Maulbeeren, zudem Würmer, Raupen und Schnecken, um im Sommer die Mägen einiger Milliarden Wandertauben zu stopfen. In der kalten Jahreszeit wanderten die Schwärme umso weiter in den milderen Süden, je strenger der Winter wurde. Dann standen bis weit ins Frühjahr hinein Eicheln und Bucheckern auf der Speisekarte. Als später die Siedler aus Europa ihre Felder in Nordamerika anlegten, begannen die Wandertauben auch Feldfrüchte zu schätzen. Dabei hatte es ihnen vor allem der Buchweizen angetan.

Kollektives Nomadenleben

Wo auch immer die Wandertauben hinzogen, waren sie in großen bis riesigen Schwärmen unterwegs. Im Frühjahr ließen sich die Tiere dann in einer gigantischen Kolonie nieder, die mit mehr als 2000 Quadratkilometern eine Fläche von der Größe des heutigen Saarlandes oder des Schweizer Kantons St. Gallen bedeckte. In einem Baum bauten die Vögel oft mehr als 50 Nester, einmal brüteten sogar 317 Paare in einer einzigen Hemlocktanne. In jedem Nest saß ein einziger Jungvogel, den die Eltern nach dem Schlüpfen gerade einmal zwei Wochen lang fütterten. Dann hatte der Nachwuchs genug Fettreserven, um auf eigenen Flügeln unterwegs zu sein. Dann verließen die Eltern das Nest, das sie gerade einen Monat vorher gebaut hatten. Ein paar Tage später flogen die Youngster aus. Danach stand die „Stadt“ genannte Kolonie leer. In der nächsten Saison suchte sich der Schwarm einen neuen Platz für eine Kolonie. Wenn überhaupt, kamen die Wandertauben erst nach einigen Jahrzehnten in eine frühere „Stadt“ zurück.

Dieses Nomadenleben bot dem Schwarm offensichtlich Schutz vor Feinden. Die holten sich zwar reichlich Eier und Jungvögel, wenn eine Kolonie erst einmal gegründet war. Da aber so viele Wandertauben dicht zusammenlebten, überlebten vermutlich 90 Prozent des Nachwuchses. In den nächsten Jahren blieben die Wandertauben aus. Daher wuchsen die Raubtier-Bestände nie so stark an, dass sie den Bruterfolg gefährden konnten. Der große Erfolg der Wandertauben beruhte also auf der großen Zahl der Vögel, die eng beieinander brüteten und so die im jeweiligen Gebiet lebenden Räuber ausbremsten.

Bereits Indianer plünderten die Vogelkolonien

Vor der Ankunft der Europäer plünderten die Indianer zwar durchaus Wandertauben-Kolonien, wenn sich diese in der Nähe des Stammes niederließen. Das Fett der Jungvögel lagerten sie ein und verwendeten es wie Butter. Dezimieren aber konnten sie die Vogelschwärme anscheinend kaum, weil diese sich jedes Jahr ein neues Siedlungsgebiet suchten, das oft genug außerhalb der Reichweite des nächsten Indianerlagers war.

Das System begann erst zu kippen, als die europäischen Kolonien sich in Nordamerika auszubreiten begannen. So rodeten die Siedler große Waldflächen für ihre Äcker und Weiden und verkleinerten so den Lebensraum der Wandertauben. Dadurch dürfte sich der Bestand verringert haben. Zum Aussterben aber reichte das bei weitem nicht. Das erledigten vielmehr die Jäger, die oft mit brutalen Methoden riesige Mengen von Vögeln erbeuteten.

Die Europäer machten grausame Jagd auf die Vögel

So stießen sie mit langen Stangen die Jungvögel aus den Nestern, nachdem die Eltern sie verlassen hatten. Oder sie fällten einen Baum voller Nester und erschlugen die Vögel dann mit Stöcken. Manchmal verbrannten sie auch Schwefel unter den Bäumen und sammelten die von den entstehenden giftigen Dämpfen betäubten Tiere unter den Bäumen auf. Der Ornithologe Paul Ehrlich von der Stanford University hat ausgerechnet, dass ein einziger Jäger in seinem Leben mehr als drei Millionen Wandertauben tötete.

Als Eisenbahnlinien die Weiten Amerikas erschlossen, nutzten die Jäger dieses Verkehrsmittel, um die erbeuteten Wandertauben in die großen Städte im Osten zu schicken. An einem einzigen Tag wurden in New York City bis zu hundert Fässer auf den Märkten für Lebensmittel verkauft, in denen jeweils 500 oder 600 tote Wandertauben lagen, berichtete Jerry Sullivan.

Zwischen 1870 und 1890 brachen die Bestände zusammen

Gingen die Bestände der Wandertaube in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts nur langsam zurück, brachen sie zwischen 1870 und 1890 fast schlagartig zusammen. Die großen Schwärme verschwanden. Brüteten aber erst einmal nur noch ein paar Hundert Vögel, konnten die Raubtiere in der Nähe den Nachwuchs komplett verzehren. Auch wenn die Jäger die letzten Vögel verschont hätten, wäre die Art zum Aussterben verurteilt gewesen.

Die Jagd endete aber keineswegs. Im März 1900 erschoss ein Junge im US-Bundesstaat Ohio dann die wohl letzte Wandertaube in der Natur. Die wenigen Tiere in Gefangenschaft legten ebenfalls keine Eier mehr. Als am 1. September 1914 die Wandertaube Martha im Zoo von Cincinnati eines natürlichen Todes starb, war einer der erfolgreichsten Vögel in der Evolution endgültig Geschichte geworden. „Die Wandertaube wurde so zum Symbol für das vom Menschen verursachte Aussterben von Arten“, fasst der Ornithologe Norbert Schäffer vom britischen Vogelschutzverband RSPB die Bedeutung dieser Art in der Fachzeitschrift „Der Falke“ zusammen. Marthas Tod war damit gleichzeitig der Beginn des modernen Artenschutzes.

Wandertaube und Artenschutz

Artensterben
Das dramatische Aussterben der Wandertaube hatte in Nordamerika starkes Aufsehen erregt. Bald wurden die ersten Gesetze erlassen, die unter anderem die Jagd und den Handel mit vielen Zugvogelarten verboten. Seither hat sich der Natur- und Artenschutz auch in vielen anderen Ländern etabliert.

Rekonstruktion
Wiederauferstehen von den ausgestorbenen Arten wird die Wandertaube wohl kaum. Doch es gibt Überlegungen, das Erbgut der Art aus einer Reihe von Exemplaren wiederherzustellen, die in Museen aufbewahrt werden. Nach Einschmuggeln in eine Eizelle der Schuppenhalstaube könnten Paare dieser verwandten Art das Ei ausbrüten und Küken aufziehen. Auf diese Weise ließen sich allerdings nur wenige Tiere „rekonstruieren“. Da die Wandertaube jedoch offensichtlich nur in großen Gruppen brütete, taugen solche Einzeltiere als Attraktion in Zoos, nicht aber zur Wiederbelebung der ausgestorbenen Art.