Omnibusgroße Tintenfische sind wohl gar nicht so selten wie früher angenommen. Über ihr Leben ist allerdings bis heute wenig bekannt. Umso intensiver werden die gefangenen Exemplare untersucht.

Stuttgart - Nichts deutet auf dem Hinterhof der Auckland University of Technology (AUT) im Herzen der neuseeländischen Metropole auf eine Begegnung mit einem Meeresungeheuer hin. Bis die US-amerikanische Biologin Kat Bolstad und ihre deutsche Praktikantin Jessica Kniller den Deckel eines etwa vier Meter langen, je einen Meter hohen und breiten Metallbehälters hochheben. Unwillkürlich stockt einem der Atem: In der klaren, rostbraunen Flüssigkeit ringelt sich ein unüberschaubares Wirrwarr aus einigen Meter langen, kräftigen Armen, die aus einem großen Sack am oberen Ende kommen. „Diesen Riesen-Kalmar wollen wir demnächst untersuchen“, erklärt Kat Bolstad in fließendem und fehlerfreiem Deutsch. Tatsächlich: ein riesiger Tintenfisch quetscht sich in den Metallbehälter. Würde man aus dem Mantel des längst toten Tieres die für eine Meeresfrüchtegericht typischen Ringe schneiden, hätten sie sicher die Dimensionen von LKW-Reifen. Es gibt sie also wirklich, die Riesentintenfische, die auf alten Kupferstichen kleinere Schiffe mit Mann und Maus zu verschlingen drohen.

 

600 Kilometer weiter im Süden schwimmt unter Plexiglas im Nationalmuseum Te Papa der neuseeländischen Hauptstadt Wellington ein weiterer dieser Giganten. Allerdings stehen die staunenden Besucher dort nicht vor einem Riesen-Kalmar Architeuthis dux wie im AUT-Hinterhof, sondern vor einem Koloss-Kalmar Mesonychoteuthis hamiltoni. Diese Art gehört zu einer völlig anderen Gruppe der Tintenfische. Es gibt also mindestens zwei Arten dieser angeblich Schiffe verschlingenden Meeresungeheuer.

Riesentintenfische werden immer wieder gefangen

Anscheinend sind die Riesen in den dunklen Tiefen der Weltmeere zwischen 400 und 600 Metern oder noch tiefer zuhause. Zumindest erwischen dort Fischereischiffe wie die San Aspiring aus Neuseeland immer wieder einen solchen Riesentintenfisch. Im Februar 2007 hatte dieser Trawler mit vier mehr als hundert Kilometer langen Leinen in den Tiefen der Ross-See vor der Antarktis Riesendorsche gefangen. Dann aber schnappte sich ein Koloss-Kalmar einen dieser 80 Kilogramm schweren und 175 Zentimeter langen begehrten Speisefische, nachdem dieser an der Langleine angebissen hatte.

Nicht dass die Weichtiere auf solche hilflose Beute angewiesen wären. Die Meeresungeheuer scheinen selbst gute Jäger zu sein, folgern die Forscher aus ihrem Körperbau. Vermutlich schnellen Koloss-Kalmare ihre beiden gut zwei Meter langen Tentakel ihrer Beute entgegen. An deren Ende befinden sich zwei Reihen mit jeweils elf oder zwölf sehr beweglichen Haken, die sich in ihr Opfer krallen. Danach ziehen sie ihre Beute in die weit ausgebreiteten acht Arme, von denen jeder zwischen 85 und 115 Zentimeter lang ist.

Die Beute wird zum Schnabel gezogen

Mit den Haken und den riesigen Saugnäpfen auf diesen Armen ziehen die Weichtiere ihre Opfer dann zu ihrem Schnabel, der sich im Zentrum von Armen und Tentakeln befindet. Da sich auf jedem Saugnapf ein Ring mit messerscharfen Zähnchen aus dem gleichen harten Chitin wie ihre Schnäbel befindet, stirbt das Opfer wohl, bevor es den Schnabel erreicht. Dieser ist von einem Ring starker Muskeln umgeben, mit deren Kraft der Schnabel die Beute in kleine Happen zerschneidet, die durch die gerade einmal daumendicke Speiseröhre passen. Um diese Speiseröhre bildet das nur 20 Gramm schwere Gehirn des Meeresungeheuers einen engen Ring. „Größere Stücke würden ihm daher vielleicht ziemliche Kopfschmerzen machen“, flachst Kat Bolstad, die den Koloss-Kalmar mit untersucht hat.

Gefangen wurde dieser Kalamar im Februar 2007. Als die Besatzung der San Aspiring ihre Langleinen einholte, sah sie einen gigantischen, leuchtend roten Tintenfisch, der seine Arme langsam bewegte, mit denen er nach wie vor den Antarktis-Riesendorsch am Haken der Leine umklammerte. „Normalerweise überleben die an das zwei bis vier Grad kalte Wasser der Tiefe gewöhnten Tiere den Temperaturschock nicht, wenn sie an die deutlich wärmere Oberfläche gezogen werden“, erklärt Kat Bolstad die Tatsache, dass Riesen-Kalmare meist nur tot die Wasseroberfläche erreichen. In der Antarktis dagegen ist das Wasser oben wie unten ähnlich eisig und die dort lebenden Koloss-Kalmare haben größere Überlebenschancen, wenn sie an die Oberfläche kommen.

Mit Fischnetz an Bord gehievt

Mit einem Fischnetz hievte die Besatzung damals das Tier an Bord und fror es rasch ein. Mehr als ein Jahr später wurde der Kalmar dann in einem extra dafür gebauten sechs Meter langen Becken im Nationalmuseum Te Papa wieder aufgetaut. „Eines der größten Probleme unserer Forschung ist, dass wir gar keine Laborbänke und Geräte haben, die groß genug sind, um solche riesigen Tintenfische zu untersuchen“, verrät Kat Bolstad.

Ausgerüstet mit Wathosen stieg im April 2008 ein Team um die AUT-Forscher Steve O’Shea und Kat Bolstad zu dem toten Koloss-Kalmar ins Salzwasserbecken. Selbst einfache Messungen wie die Größe des Tieres waren äußerst schwierig, weil der Riese nach mehr als einem Jahr in der Tiefkühlkammer sehr viel Wasser verloren hatte und erheblich geschrumpft war. Hatte die Besatzung der San Aspiring ihn noch auf acht bis zehn Meter Länge geschätzt, zeigten die Maßbänder nach dem Auftauen jedenfalls nur noch 4,2 Meter.

Die Dimension eines LKW-Reifens

Da war das fünf Jahre vorher ebenfalls in Wellington untersuchte Tier mit 5,4 Metern Gesamtlänge doch deutlich stattlicher gewesen. Zumindest in der Länge, beim Gewicht war der 2008 untersuchte Kalmar mit 495 Kilogramm schwerer, der Konkurrent hatte „nur“ 300 Kilogramm auf die Waage gebracht. Der schwerste Teil der riesigen Weichtiere ist normalerweise der Mantel. Dieser 2,5 Meter lange Zylinder aus Muskelsträngen und Haut hat mit 98 Zentimetern Durchmesser die Dimensionen eines LKW-Reifens. Am hinteren Ende sitzt die 1,2 Meter lange Schwanzflosse, mit der ein Koloss-Kalmar schwimmt. Zumindest, solange er den Vorwärtsgang eingelegt hat. Flieht das Tier dagegen rückwärts, saugt es wie alle Tintenfische Wasser in einen Hohlraum im Mantel und presst es dann durch ein „Trichter“ genanntes Organ in einem scharfen Strahl nach vorne. Der Rückstoß katapultiert den Riesentintenfisch nach hinten davon und ein Angreifer schnappt ins Leere.

Von der Spitze bis zur Schwanzflosse können die riesigen Kalmare bis zu 13 Meter lange werden und so die Dimensionen eines Omnibusses erreichen. Vorne am Mantel wachsen aus dem Kopf des Weichtieres die Arme und Tentakel. Auch dort ist ein Rekord zu verzeichnen: Satte 27 Zentimeter Durchmesser haben die Augen, sie sind also ein wenig größer als ein Fußball. Schon die Augenlinsen erreichen mit acht Zentimetern die Ausmaße einer Orange. Genau wie beim Menschen oder einer Eule sitzen beide Riesenaugen vorne am Kopf. Damit kann der Koloss-Kalmar stereo sehen und die Entfernung seiner Beute gut einschätzen.

Eingebauter Suchscheinwerfer

Zunächst rätselten die Forscher, wie der Riese in der dunklen Tiefsee überhaupt sehen kann. Des Rätsels Lösung: der Koloss-Kalmar hat in jedem Auge eine Art Suchscheinwerfer eingebaut. Gleich neben der Linse sitzt ein schmales Band von Lichtzellen. Wenn das Tier nach vorne schaut, beleuchtet es damit gleichzeitig seine Beute, kann die Entfernung gut schätzen und mit den langen Tentakeln zugreifen.

Vielfältige Tiergruppe: die Tintenfische

Kopffüßer
Tintenfische gehören zur Tierklasse der Kopffüßer und stellen mit den omnibusgroßen Riesen- und Koloss-Kalmaren die größten Vertreter aller Weichtiere. Alle Tintenfische können bei Gefahr eine dunkle „Tinten“-Wolke ausstoßen, hinter der sie sich verstecken können. Bei den Tintenfischen unterscheiden die Forscher zwei große Gruppen, von denen die eine acht Arme und die andere zusätzlich zu diesen meist noch zwei Tentakel hat. Neben den Kalmaren gibt es bei den Zehnarmigen Weichtieren noch die beiden kleineren Gruppen der Zwergtintenfische und Posthörnchen sowie die große Ordnung der Sepien.

Intelligenz
Oktopusse oder achtarmige Kopffüßer bilden die zweite große Gruppe der Kopffüßer. Dazu gehören vor allem die Kraken, die zwar scheu, aber auch sehr neugierig sind. Diese Teilgruppe der Kopffüßer gilt als besonders intelligent und wird in dieser Beziehung häufig mit Ratten oder Papageien verglichen.

Lebensräume
Ihre Intelligenz brauchen Oktopusse vermutlich vor allem, weil sie sich am Meeresboden und damit in einer abwechslungsreichen Umgebung zurechtfinden müssen. Das Leben im offenen Wasser ist dagegen viel eintöniger. Dort genügt selbst den Koloss-Kalmaren ein nur 20 Gramm schweres Gehirn, das zwei Drittel seiner Kapazität dem Sehen widmet.