Stechpalmen sind ein beliebtes Deko-Element zu Weihnachten. Ob ihre Blätter pieksen oder nicht, hängt entschieden vom epigenetischen Schalter am Erbgut ab – das haben Forscher nun herausgefunden.

Stuttgart – Kaum eine Weihnachtsdeko kommt ohne Stechpalmen aus. Doch das Schmücken mit Zweigen der wissenschaftlich Ilex aquifolium genannten Sträucher mit den hübschen roten Beeren kann äußerst schmerzhaft sein. Allzu leicht pikst man sich an den harten Stacheln, die der Rand der ledrigen Ilexblätter bildet.

 

Wer genauer hinschaut, entdeckt im stacheligen Strauch aber auch immer wieder andere Blätter: Sie sind weicher und haben keine oder nur sehr wenige kleine Stacheln. Jetzt entdeckten die Biologen Carlos Herrera und Pilar Bazaga aus dem spanischen Sevilla die molekularbiologischen Ursachen des Phänomens. Es scheint, als würden die Blätter über ihr Aussehen selbst entscheiden. Je nachdem, wie oft Hirsche oder Ziegen bereits an ihnen herumgeknabbert haben, ändern sie ihr epigenetisches Programm und damit ihre Gestalt. Publiziert wurden die Ergebnisse in der Dezemberausgabe des Fachmagazins „Botanical Journal of the Linnean Society“.

Der epigenetische Schalter ist schuld

Die Forscher analysierten Blätter mit und ohne Stacheln von 40 Stechpalmen. Das Erbgut beider Blatttypen sei zwar gleich, allerdings unterschieden sich Zahl und Art der Gene, die die einzelnen Zellen aktivieren könnten. Verantwortlich dafür sind sogenannte epigenetische Schalter: Am Erbgut der stacheligen Blätter sitzen deutlich weniger Methylgruppen, bestehend aus einem Kohlenstoff- und drei Wasserstoffatomen, als an den Genen der anderen Blätter. Weil diese DNA-Methylierung das Ablesen von Genen verhindert, können die stachellosen Blätter das genetische Programm für die Stachelbildung nicht umsetzen. Sie folgen also einfach einem anderen Programm.

Der Auslöser dafür, welchen Weg ein Blatt im Laufe seiner Entwicklung einschlägt, scheint ein äußerer Umwelteinfluss zu sein. Herrera und Bazaga untersuchten nämlich auch, an welchen Stellen der Sträucher in der Vergangenheit Tiere gefressen hatten. Dabei zeigte sich ein signifikanter Unterschied: Je weniger Fressschäden es an einem Zweig gegeben hatte, desto häufiger trug er stachellose Blätter.

Schutz vor Feinden

Am deutlichsten ist der Effekt bei Blättern, die höher als zweieinhalb Meter wachsen. Das hängt damit zusammen, dass diese für Rotwild nicht mehr erreichbar sind. Diese phänotypische Plastizität dürfte den Pflanzen einen entscheidenden Vorteil verschaffen. Die stachellosen Blätter erzielen wohl eine bessere Energieausbeute, werden aber auch eher gefressen. Ihre Produktion macht folglich nur Sinn, wenn keine Gefahr besteht.

Eine ganz ähnliche Reaktion kennen Epigenetiker bereits von Wasserflöhen. Befinden sich viele Mückenlarven im Wasser, die sich überwiegend von den Kleinkrebsen ernähren, wechseln diese in ein anderes epigenetisches Programm. Dann wachsen längliche, haubenförmige Anhängsel am Kopf. Sie werden zu groß, um gefressen zu werden. Da diese Schutzmaßnahme viel Energie verbraucht, verschwinden die Hauben tragenden Wasserflöhe in der nächsten Generation wieder, wenn die Zahl der Mückenlarven abgenommen hat.

Die junge Wissenschaft der Epigenetik, die Zusatz- oder Nebengenetik, erforscht Strukturen, die an oder bei den Genen sitzen und deren Aktivierbarkeit dauerhaft verändern können. Nicht nur Stechpalmen oder Wasserflöhe reagieren durch das Umlegen epigenetischer Schalter mit bleibenden Anpassungen auf Umwelteinflüsse, sondern auch Menschen. Das Risiko für Krankheiten aller Art, von Fettsucht und Diabetes über Allergien und Herz-Kreislauf-Leiden bis zu Depressionen, Sucht und Angststörungen wird deshalb auch vom Lebensstil und seelischen Belastungen aus der Vergangenheit beeinflusst.

Behandlung menschlicher Leiden

Fast alles wirke sich über die Epigenetik irgendwie auf die menschlichen Gene aus, sagt der Genetiker Jörn Walter von der Universität Saarbrücken: „Essen, Verhalten, Gifte, Stress, möglicherweise sogar klimatische Veränderungen.“ Walter und seine Kollegen erforschen diese Mechanismen nicht zuletzt, um die Behandlung und Vorsorge vieler menschlicher Leiden zu verbessern. Als zusätzliches Forschungsfeld könnten sie sich ja nun auch stachelfreien Ilex auf die Fahnen schreiben – für schmerzfreie Weihnachten.