Biometzger Fritz hört auf Alles hat ein Ende
Die Geschäfte gehen gut, die Kunden sind glücklich: Trotzdem schließt die Bio-Fleischerei Fritz in Freiberg am Neckar nach 111 Jahren. Ausgerechnet jetzt. Wie kann das sein?
Die Geschäfte gehen gut, die Kunden sind glücklich: Trotzdem schließt die Bio-Fleischerei Fritz in Freiberg am Neckar nach 111 Jahren. Ausgerechnet jetzt. Wie kann das sein?
Freiberg - Es ist nicht so, dass die Leberwurst, die auf einer Stange an der Wand hängt, lächelt, wenn ein Kunde das Geschäft betritt. Das Hühnchen, das gevierteilt hinter der Theke liegt, beginnt nicht, vor Freude mit den Flügeln zu schlagen. Und die vakuumierten Maultaschen reißen nicht die Klappe auf und rufen: „Grüß Gott!“ All das passiert nicht in der Biofleischerei Fritz in Freiberg am Neckar. Aber wundern täte es einen nicht. Es gibt hier ja auch Verkäuferinnen, die mit Nachnamen Hammel und Lämmle heißen. Und Kunden, die so ziemlich alles tun würden, damit die Fleischerei dort bleibt, wo sie seit 111 Jahren ist. „Wir starten eine Petition!“, sagen sie. Oder: „Wir sammeln Unterschriften!“ Und: „Wir lassen Sie nicht aufhören!“
Doch genau das wird passieren. Anfang August wird Harald Fritz sein Geschäft für immer schließen und in den Ruhestand gehen, den wohlverdienten, wie er selbst sagt. 68 Jahre alt ist Harald Fritz, 53 davon hat er Fleisch zerstückelt, Wurst gekuttert, Kunden bedient. Hochzeitsgesellschaften verköstigt, Tauffeiern bestückt, Leichenschmäuse beliefert. So sehr man Harald Fritz seinen Ruhestand also gönnen muss, so sehr kann man ihn auch bedauern. Einen Nachfolger gibt es nicht. „Dafür gibt es wieder eine Metzgerei weniger – und damit ein Stück Lebensqualität“, wie es Klaus Hühne formuliert, der Chef des Deutschen Fleischerverbands.
Komisch ist das schon: Alle sind entsetzt, wenn mal wieder Bilder von gequälten Tieren, vergammeltem oder verseuchtem Fleisch durch die Nachrichten geistern, viele sind (angeblich) bereit, für gutes Fleisch mehr Geld auszugeben – und trotzdem verschwindet ein Fachgeschäft ums andere. Wie kann das sein?
Zum Mittag gab’s Fleischkäse mit Kartoffelsalat, sechs Euro, alles weggeputzt. Fleischkäse geht eh gut in der Fleischerei Fritz. Mehr ist im Bistro nur los, wenn es Rouladen gibt oder Sauerbraten. Jetzt sollte der Meister endlich mal den Rinderrücken aus der Kühlkammer holen und ein paar T-Bone-Steaks runtersägen. Eine Bestellung. Aber wie denn? Die Grilltheke muss erst aufgefüllt werden. Sieht nicht gut aus, so halb leer. Dann sind da auch Kunden, die ein bissle schwätzen wollen.
„Meinem Betrieb geht’s gut“, sagt der Chef. „Ich könnte noch lange weitermachen.“ Allerdings hat ihm seine Frau noch länger eingebläut, dass man auch anderes machen kann, als sieben Tage die Woche zu schaffen. Vor zwei Jahren hat Harald Fritz sie schließlich erhört und sich auf die Suche nach einem Nachfolger gemacht. 155 Kollegen im Kreis Ludwigsburg und dem Umland hat er angesprochen. Das Ergebnis ist bekannt: Niemand wollte die Biofleischerei übernehmen. Harald Fritz sagt, dass ihn das schon wehmütig stimme. Aber überrascht ist er nicht. Er kennt seine Branche.
11 671 Metzgereien hat der Deutsche Fleischerverband im vergangenen Jahr in ganz Deutschland gezählt – anno 1995 waren es noch 22 117, fast doppelt so viele. Viele von ihnen haben inzwischen aufgehört, weil sie keinen Nachfolger gefunden haben, sagt Klaus Hühne. Viele haben aber auch dichtgemacht, weil sie gegen die Konkurrenz aus den Supermärkten machtlos waren. „Letzten Endes entscheidet sich die Zukunft an der Ladenkasse“, sagt der Verbandschef.
Als Harald Fritz 15 war, hat er seinen Eltern geschrieben: „Liebe Mama, lieber Papa, darf ich bei euch lernen?“ So stand es in dem Brief, den er mit der Post nach Hause schickte. Seine Eltern haben fassungslos gelacht. Dass ihr Harald ins Geschäft kommt, war doch schon immer klar.
Harald Fritz erzählt mit geschlossenen Augen von früher. Als würde er hinter seinen Lidern den kleinen Laden sehen, zu dem man fünf Stufen hinaufsteigen musste, um die Wurst und das Fleisch zu kaufen, die der Opa dort herstellte. Als würde er wieder mit dem Vater zum Bauern ein paar Straßen weiter laufen, um einzukaufen. „Das da will ich“, sagt der Vater und zeigt auf ein Rind. „Gib mir 600 Mark“, ruft der Bauer. „Ich geb dir 500“, brüllt der Vater. Am Schluss trifft man sich bei 550, schüttelt Hände und geht froh auseinander.
Harald Fritz lächelt, wenn er an das Gefeilsche denkt. Er lächelt, wenn er sich erinnert, wie er jahrzehntelang Schweinehälften huckepack transportiert hat. Und er lächelt, wenn er sagt, er liebe die Vielseitigkeit seines Berufes: „Aus dem Rohmaterial Fleisch kann man so viele Sachen machen, so viele Edelstücke, so viele Fleischsorten.“
Die Zeiten sind andere: Statt Handschlägen gibt es Waagen, Computer und Formulare. Der Laden ist ein anderer: Umgebaut zu einem modernen Betrieb mit fünf Kühlräumen und einer kleinen Produktionshalle. Und die Jugend ist offenkundig auch eine andere: Harald Fritz hat schon lange keinen Brief mehr bekommen, auch keine Mail, in der jemand gefragt hat, ob er in der Fleischerei Fritz lernen darf. Den letzten Metzgerlehrling hat er vor zehn Jahren ausgebildet.
Poster hat der Fleischerverband gemacht, um das Image seiner Branche aufzupolieren. Und Videos und Werbehefte. Gebracht das wenig. Die Zahl der Lehrlinge sinkt. Mehr als 9000 Nachwuchsmetzger waren es deutschlandweit vor 20 Jahren, weniger als 3000 sind es heute. Das liegt nicht nur daran, dass viele junge Menschen denken, als Metzger müsse man allzeit eine blutverschmierte Schürze tragen. Das liegt vor allem daran, dass es immer weniger junge Leute gibt. Und die, die es gibt, zieht es in andere Berufe. „Die demografische Entwicklung steht über allem“, sagt der Experte Klaus Hühne.
Die Knochensäge kreischt fies, als sich Harald Fritz endlich um die T-Bone-Steaks kümmert. Dass sie trotzdem kaum zu hören ist, liegt am Telefon, das fast ununterbrochen läutet und deshalb fast noch fieser klingt. Die Leute bestellen Kalbshaxe, Schaschlikspieße, Fleischknochen, Rote, Thüringer, Wurstsalat, Hühnchenbrust, Hochrippe, Kotelett. Seit Corona aufgetaucht ist, macht Harald Fritz, wie er sagt, 30 Prozent mehr Umsatz. Und seit Tönnies aufgeflogen ist, kamen noch mal zehn Prozent dazu. „Wir kommen kaum hinterher“, sagt der Meister, dessen Geschäfte auch ohne Pandemie und Skandal gut gehen. Neulich, das war der bisherige Gipfel, war um elf am Morgen das Hackfleisch ausverkauft.
Auf einem Zettel, der im Laden ausliegt, preist Harald Fritz „Gesundes Essen für Sie und Ihre Familie“ an und bewirbt sein Biofleisch, das er von der Bäuerlichen Erzeugergemeinschaft Schwäbisch Hall bezieht. Stroh im Stall, Auslauf an der frischen Luft, Ökofutter aus eigenem Anbau, Zeit zum Wachsen – mit seiner Unterschrift garantiert Harald Fritz „beste Qualität“. Das Papier stammt aus seiner Zeit als Biopionier. Über den Preis konnte er die Kunden ja nicht locken: 22 Euro für ein Kilo Rinderhack oder sechs Euro für 150 Gramm Kochschinken wirken auch heute für viele abschreckend – Bio hin oder her. Und Freiberg ist ja nicht Freiburg. Vor 16 Jahren wurde Ökofleisch auch noch kritischer beäugt als heute. Harald Fritz hat sich am Anfang nicht mal getraut, den höheren Einkaufspreis komplett weiterzugeben.
Andererseits: Wenn der Preis hoch ist, kann man ja die Menge reduzieren. So lief es bei Harald Fritz. Die Kunden schätzten den Unterschied. Sie leisteten sich das teure Fleisch, aber nicht in rauen Mengen. Nach einem halben Jahr nahm er die konventionelle Ware komplett aus dem Sortiment und verkauft seither ausschließlich Bio, zu auskömmlichen Preisen. An Kundschaft, die aus einem Umkreis von 25 Kilometern zu ihm kommt. „Alle Krisen“, sagt Harald Fritz, „sind an mir abgeprallt.“ Nur die Nachfolgekrise nicht.
Wo führt das hin? Zu einem dünner werdenden Nahversorgungsnetz und noch mehr Einkaufswagen vor den Kühltruhen der Discounter? Klaus Hühne sieht die Lage nicht so düster. Das Bewusstsein für Qualität werde weiter steigen, prophezeit der Profi. Wenn damit auch die Bereitschaft steigt, mehr Geld zu bezahlen, steigt hoffentlich auch die Zahl der Berufsanwärter wieder. Ein Kreislauf, in den sich auch ein sinkender Fleischkonsum bestens fügen würde. „Ich sehe eine positive Entwicklung für das Handwerk“, sagt Hühne. Ob er recht behält?
In den Regalen der Fleischerei Fritz stehen jetzt nicht mehr so viele Nudelpäckchen und Dosen mit Wurst. Stattdessen bietet Harald Fritz jetzt auch Teller, Tassen und Besteck an und Platten aus Edelstahl, Schalen aus Glas und was man sonst nicht mehr braucht, wenn man bald kein Catering mehr anbieten wird. Neue Öffnungszeiten gibt es auch, seit eine Verkäuferin gekündigt hat. Die drei anderen haben auch schon eine neue Stelle in Aussicht. Die Fleischerei Fritz hat jetzt fast nur noch vormittags geöffnet. Für die Kundschaft ist das eine drastische Kürzung. Aber natürlich: besser als nichts.