Insekten produzieren viele Substanzen, die für die medizinische oder industrielle Produkte interessant sein könnten. Von Insekten könne man viel lernen, sagen Forscher.

Von Insekten lernen heißt siegen lernen“. Mit diesem Satz fasst Andreas Vilcinskas gern das Grundprinzip seiner Arbeit zusammen. Der Biologe leitet das LOEWE-Zentrum für Insektenbiotechnologie in Gießen, in dem Wissenschaftler verschiedener Disziplinen den Geheimnissen der Sechsbeiner auf der Spur sind. Schließlich haben diese Tiere im Laufe ihrer Evolution eine ganze Reihe von nützlichen chemischen und biologischen Erfindungen gemacht. In ihren Körpern finden sich zum Beispiel Moleküle, die Krankheitserreger bekämpfen, Fleisch konservieren oder Holz abbauen können. Das alles aber sind Effekte, die auch aus menschlicher Sicht interessant sind – sei es für die Medizin oder für alle möglichen industriellen Anwendungen. Die Insektenwelt steckt also voller neuer Ideen. Und die wollen die Gießener Forscher in Produkte und Dienstleistungen verwandeln.

 

Dabei ist es kein Zufall, dass sie sich ausgerechnet für diese Vorbilder entschieden haben. „Insekten sind die erfolgreichste Tiergruppe, die es auf der Erde überhaupt gibt“, sagt Vilcinskas. Sie haben nicht nur die unterschiedlichsten Lebensräume besiedelt, sondern auch eine ungeheure Artenfülle hervorgebracht. Mehr als eine Million unterschiedliche Insekten haben Wissenschaftler bereits beschrieben, wahrscheinlich gibt es noch deutlich mehr. Der Biologe ist überzeugt davon, dass sich diese Artenvielfalt auch auf der Ebene der Moleküle widerspiegelt. „Die Insekten bieten uns eine riesige Bibliothek von Naturstoffen“, schwärmt er. „Und die wollen wir zum Wohl des Menschen nutzbar machen.“

Vielversprechende Substanzen

Dazu gilt es, vielversprechende Substanzen ausfindig zu machen. Und das ist gerade wegen der schwer überschaubaren Vielfalt dieser Tiergruppe gar nicht so einfach. Schließlich kann niemand sämtliche Arten auf möglicherweise interessante Inhaltsstoffe untersuchen. Einfach ein paar beliebige Tiere auswählen und auf einen Zufallstreffer hoffen wollen die Forscher aber auch nicht. Also betrachten Vilcinskas und seine Kollegen die Welt aus der Insektenperspektive: Wo kommt eine bestimmte Art vor? Auf welchen Lebensstil hat sie sich spezialisiert? Und vor welchen besonderen Herausforderungen steht sie dabei? Die Antworten auf diese Fragen liefern oft wertvolle Hinweise darauf, für welche Probleme eine Art im Laufe ihrer Entwicklung eine Lösung gefunden haben muss.

Wer nach neuen Antibiotika gegen Krankheitserreger sucht, kann sich zum Beispiel bei den Bewohnern von Lebensräumen umsehen, die besonders mit Mikroben belastet sind. Der Nachwuchs der zu den Schwebfliegen gehörenden Mistbiene ist da ein vielversprechender Kandidat, denn diese sogenannten Rattenschwanzlarven leben als einzige Tiere nur in Jauche- und Güllegruben. Dort gibt es viele Krankheitserreger. „Also müssen diese Tiere ein Top-Immunsystem haben“, folgert Vilcinskas. Tatsächlich haben er und seine Kollegen schon im ersten Anlauf 19 verschiedene Abwehrwaffen entdeckt, mit denen sich Rattenschwanzlarven gegen Bakterien zur Wehr setzen. Dabei handelt es sich um Peptide – kleine Eiweiße, die aus mehreren Aminosäuren bestehen. Die Forscher testen nun, wie gut diese Substanzen gegen gefährliche humane Krankheitserreger wirken.

Ein weiteres Lieblingstier der Gießener Antibiotika-Forscher ist der Asiatische Marienkäfer. Der lebt zwar nicht in derart unhygienischen Verhältnissen, hat sich aber einen Namen als erfolgreicher Invasor gemacht. Seit der ursprünglich aus Zentralasien stammende Blattlausfresser im 20. Jahrhundert zur Schädlingsbekämpfung in Europa und Nordamerika eingeführt wurde, hat er sich rasant ausgebreitet. „Eine Theorie besagt, dass solche invasiven Arten ein besonders effektives Immunsystem haben müssen“, erläutert Vilcinskas. Schließlich sind sie immer wieder mit neuen Krankheitserregern und Parasiten konfrontiert. Tatsächlich haben die Gießener Forscher im „Hämolymphe“ genannten Blut des Asiatischen Marienkäfers eine chemische Abwehrwaffe entdeckt, über die europäische Zwei- und Siebenpunkt-Marienkäfer nicht verfügen. Um die Wirkungen dieser auf den Namen „Harmonin“ getauften Substanz genauer untersuchen zu können, brauchten die Molekül-Fahnder allerdings erst einmal genügend große Mengen davon. Also hat ein Team um Wolfgang Boland vom Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena ein Verfahren entwickelt, mit dem sich der Wirkstoff im Labor in großem Maßstab synthetisieren lässt.

Substanz wirkt gegen Tuberkulose

Die anschließenden Tests haben vielversprechende Ergebnisse gebracht. So wirkt Harmonin im Labor nicht nur gegen Tuberkulose-Bakterien, sondern auch gegen verschiedene Parasiten. Den Malaria-Erreger zum Beispiel kann es im Gegensatz zu den heute üblichen Medikamenten sogar in verschiedenen Stadien seiner Entwicklung bekämpfen. Nun sind die Forscher dabei, auf der Basis der Harmonins abgewandelte Moleküle zu entwickeln. Die sollen wirksam, aber weniger giftig für Zellen sein.

Möglicherweise kann der Käfer sogar noch mehr Anregungen für die Entwicklung medizinischer Wirkstoffe liefern. Neben dem Harmonin haben die Forscher in seiner Hämolymphe nämlich auch noch mehr als 50 Peptide gefunden, die gegen Bakterien und Pilze wirken. So viele kennen Immunbiologen bisher bei keiner anderen Tier- oder Pflanzenart. Wenn Erreger die chemische Waffe Harmonin überwunden haben, schaltet der Marienkäfer die Produktion dieser Substanzen offenbar als zweite Abwehrlinie ein. Und auch in diesem Potpourri lassen sich womöglich medizinisch interessante Substanzen finden. In Zusammenarbeit mit der Firma Sanofi in Frankfurt Hoechst sollen aus solchen Naturstoffen neue Antibiotika entstehen.

„Ein neues Medikament zu entwickeln kann allerdings leicht zehn bis 15 Jahre dauern“, sagt Vilcinskas. Deutlich schnellere Erfolge erwartet er dagegen bei der Entwicklung von Insektenprodukten für den industriellen Einsatz. Auch da haben er und seine Kollegen schon etliche Sechsbeiner im Visier, die interessante Vorbilder sein können. Zum Beispiel den Totengräberkäfer, der aus großer Entfernung verendete Mäuse oder Vögel orten kann.

Ist so ein Käfermännchen fündig geworden, lockt es ein Weibchen an und beide zusammen vergraben die Beute als Nahrung für den künftigen Nachwuchs im Boden. Danach rasieren sie die tote Maus mit den Mundwerkzeugen und behandeln sie mit ihrem Speichel. In dieser Flüssigkeit haben die Gießener Forscher mehr als 30 zersetzungshemmende Substanzen gefunden. Schließlich soll der Kadaver so lange halten, bis die Larven fressbereit sind. Wenn es schließlich so weit ist, geben die Käfer-Eltern mit dem Speichel Enzyme ab, die das Fleisch für den Nachwuchs vorverdauen. Neben neuen Konservierungsstoffen kann der Totengräber also vielleicht auch biochemische Werkzeuge für die Beseitigung von Schlachtabfällen liefern.

Überhaupt sind Insekten sehr kreativ, wenn es um den Abbau verschiedener Substanzen geht. Termiten, verschiedene holzfressende Käfer und Wespen leben zum Beispiel mit Pilzen zusammen, die ihnen spezielle Enzyme liefern. Mit deren Hilfe gelingt es den Tieren, auch widerstandsfähige Pflanzenbestandteile wie Cellulose oder Lignin zu zersetzen – eine Fähigkeit, die auch für die Produktion von Biotreibstoffen aus Holzabfällen interessant ist. Die berüchtigten Kleidermotten dagegen brauchen für ihr Zerstörungswerk Enzyme, die das Keratin in Säugetierhaaren zersetzen. Auch die lassen sich womöglich industriell verwenden, weil man damit zum Beispiel Leder weich machen kann. Und wer glutenfreie Lebensmittel herstellen will, kann sich methodische Anregungen bei getreidefressenden Käfern holen. „All diese Insekten mit ihren vielfältigen Talenten kommen vor unserer Haustür vor“, betont Vilcinskas. Man muss nur richtig hinschauen.